Nach Hybrid-Ausgaben 2020 und 21 jetzt wieder Normalbetrieb: Und wie! Das Jazzfest Berlin 2022 war mehr Fest denn je. Im renovierten Haus der Berliner Festspiele wurde getanzt, gewandelt, gelauscht und munterer Gedankenaustausch gepflegt. Es gab junge Entdeckungen und jung gebliebene alte Heroen. Vier Nächte lang Jazz mit gesteigertem Spaßfaktor – und ein Konzert mit Feuerlöschern.
Bildquelle: © Mathias Eick
Swing tanzen ausdrücklich erlaubt! Weit nach Mitternacht an einem der langen Abende beim Jazzfest 2022: Die französische "Umlaut Big Band" spielt süffigen Swing, der Free-Jazz-Pionier Sven-Ake Johansson steigt mit altmodischem Anzug und Hut als Crooner ein, verkündet sanft singend "Vergiss nicht den November in Berlin" – und vor dem Podium tanzen einige Paare ausgelassen dazu.
Auch so kann ein Jazzfestival sein: ein Überraschungspaket mit Tönen, die in diesem Jahr besonders ausgelassen die Begegnung feierten. Denn nach zwei Corona-Jahrgängen 2020 und 2021 mit Online- und Hybrid-Konzepten durfte die Musik wieder vor körperlich anwesenden Menschen erklingen. Und das im "Haus der Berliner Festspiele", das in den letzten Jahren wegen Renovierung geschlossen war – und sich jetzt dem Jazz besonders öffnete – bei der 59. Ausgabe des traditionsreichen Jazzfests Berlin, diesmal unter dem Motto "Moving Back / Forward". Wieder unter der künstlerischen Leitung der Kulturmanagerin Nadin Deventer, die auch in den nächsten zwei Jahren das Programm des Festivals gestalten wird.
"Playing the Haus". Unter diesem Motto spielten an einem der Festivaltage in den Stunden rund um Mitternacht neun verschiedene Ensembles an drei verschiedenen Orten im Haus, um bei der ersten Ausgabe nach den beiden durch die Pandemie stark eingeschränkten Jahren ein besonderes Zeichen fürs Wieder-Aufleben der Live-Kultur zu setzen: Im weiten, fürs Publikum geöffneten Bühnen- und Hinterbühnenraum und im Oberen Foyer und in der Kassenhalle traten Bands auf. Das Publikum konnte lustwandeln und Klänge entdecken. Und mit den Musiker*innen fast auf Tuchfühlung gehen. Da spielte ein Trio des Schlagzeugers Sven-Ake Johansson einfach mitten im Raum, und nicht einmal einen Meter von den Akteuren entfernt standen und kauerten Zuhörer*innen. Sie hätten den Musikern dabei ohne Weiteres die Hand auf die Schulter legen können.
In lockeren Spaziergängen Klänge zu erschnuppern: Das funktionierte offenbar prächtig – und die Klänge zeigten sich dabei so bunt wie nur möglich, vom swingenden Party-Sound bis zur klingenden Identitäts-Erkundung in Ensembles wie dem Duo der Geigerin Silvia Torozzi und der Cellistin Deborah Walker, die von bitterer Armut, von Krieg und von der Liebe handelnde italienische Volkslieder packend kunstvoll in existentielle Klangmosaiken verwandelten.
Folksongs und traditionelle Klänge aus verschiedensten Regionen der Welt waren diesmal einer der roten Fäden im Programm: mit Schlaglichtern auf die Ukraine ("Shadows of Forgotten Ancestors"), Armenien ("Gurdjieff Ensemble") und anderen mehr. Daneben lag ein Akzent auf großen Figuren des europäischen Free-Jazz und auf der besonders lebendigen Kreativ-Jazz-Szene von Chicago. In 43 Auftritten entfaltete sich dabei ein enorm farbenreiches Spektrum, in dem auch bewegende Momente mit den Free-Jazz-Altmeistern Peter Brötzmann und Alexander von Schlippenbach ihren Platz hatten. Allerdings war es für besonders Entdeckungswillige im Publikum aufgrund vieler parallel ablaufender Konzerte unmöglich, alles zu hören: Irgendeinen spannenden Auftritt verpasste man immer.
Die Cellistin Tomeka Reid leitete "The Hemphill Stringtet" beim Jazzfest Berlin 2022. | Bildquelle: Camille Blake / Berliner Festspiele Mit einem klassisch besetzten Streichquartett, geleitet von der Cellistin Tomeka Reid, das Kompositionen des Saxophonisten Julius Hemphill spielte und voller Tiefgründigkeit swingte, begann das Jazzfest am frühen Donnerstagabend – und mit den hinreißenden instrumentalen Breitseiten vom "Supersonic Orchestra" des norwegischen Schlagzeugers Gard Nilssen endete das Festival Sonntagnacht. Mehr Kontrast geht kaum.
Der Schlusspunkt mit dem Supersonic Orchestra war das vielleicht spektakulärste Festival-Finale seit langem. Sieben Saxophone, vier Blechbläser und je drei Kontrabassisten und Schlagzeuger bilden diese Band, und in manchen ihrer Stücke pusten und schmettern alle zusammen aus vollstem Rohr.
Im Gewitter der wilden Saxophone und Rhythmusgeber war aber auch immer wieder poetische Schönheit auszumachen. Denn nicht nur mit Power, sondern auch mit sinnlicher Feinheit spielten in dieser Pracht-Bigband so namhafte Musiker:innen wie Mette Rasmussen, Maciej Obara, André Roligheten und Otis Sandsjö (Saxophone) oder Petter Eldh und Ingebrigt Haker Flaten (Bässe).
Hinreißend theatralisch: Sven-Åke Johanssons zehnminütiges Werk für fünfzehn Feuerlöscher. | Bildquelle: Sven-Åke Johansson Zwischen diesen Festival-Eckpunkten lagen rund 100 Stunden und viele spannende Momente – sowie eine Enttäuschung (ausgerechnet zur besten Zeit am Samstagabend). Einige Konzerte dürften bei manchen Besuchern besonders lange nachhallen. Ein hinreißender theatralischer Moment war das Konzert für 15 Handfeuerlöscher, das Sven-Åke Johansson komponiert hatte und nun auch dirigierte. Ein zehnminütiges Opus für v-förmig aufgestellte Feuerlöscher, die auf Handzeichen hin in Gang gesetzt wurden. Und: eine von rechts und links zischende, weißschäumende Reflexion über musikalische Mittel und ihre Erweiterung, die auch von dem amerikanischen Avantgardisten John Cage hätte stammen können. Gleichzeitig ein Schau-Stück mit tieferem Ernst: Denn schon lange hatte die Welt Feuerlöscher nicht mehr so nötig wie 2022.
Ein Muster an verfeinerter Musikalität war das Borderlands Trio mit der kanadischen Pianistin Kris Davis und ihren beiden amerikanischen Kollegen Stephan Crump (Kontrabass) und Erin McPherson (Schlagzeug). Ein so nuancenzartes Klavierspiel wie bei Kris Davis, einen so intonationssicheren Bass wie bei Crump und ein so leise bei ganz breitem Klangspektrum groovendes Schlagzeug wie bei McPherson erlebt man selten: Ihr (frei improvisiertes) Konzert war Kammermusik mit Trance-Charakter, denn die Pianistin spielte häufig Patterns, die sich mit subtilen Veränderungen wiederholten, und schuf damit eine packende Eindringlichkeit – auch mit Steigerungen bis hin zu geballten Klang-Ausbrüchen.
Die Zugabe der drei bot klischeefreie Klangschönheit in besonders zart getupten Tönen: Sanftes mit fesselnder Intensität, weil keiner der schönen Töne harmlos wirkte. Eine Entdeckung im selben Besetzungstypus war das Trio der jungen estnischen Pianistin Kirke Karja – mit Etienne Renard am Kontrabass und Ludwig Wandlinger am Schlagzeug. Auch hier: Sinn für Kammermusik, für Feinabtönung und Überraschungsmomente im freien improvisatorischen Austausch.
Ein besonderer Akzent lag diesmal auf dem Free Jazz als radikalstem Individual-Ausdruck des Jazz – und als Musik, die in einer Zeit eines Neu-Aufschwungs von Autokraten in vielen politischen Landschaften eine eigene neue Kraft entwickelt. Er mache brutale Musik für eine brutale Zeit, sagte einer der deutschen Free-Jazz-Protagonisten, der Saxophonist Peter Brötzmann, schon vor Jahrzehnten. Heute können sich viele Musiker dieses Motto zu eigen machen – und haben erst recht Grund dazu.
Der Saxophonist Peter Brötzmann war beim Jazzfest Berlin 2022 zu erleben. | Bildquelle: Anna Niedermeier / Berliner Festspiele Peter Brötzmann, 81 Jahre und geistig neugierig wie eh und je, war beim Jazzfest zusammen mit dem marokkanischen Gimbri-Spieler und Sänger Majid Bekkas sowie mit dem Schlagzeuger Hamid Drake zu erleben. Der einst ungestüme Saxophonist mit dem buschigen Bart und einem bewusst zu großen dunklen Streifen-Zweireiher zeigte sich hier als bemerkenswert einfühlsamer Sideman: Er spielte – wahlweise auf Tenor- und Altsaxophon sowie auf einer Metallklarinette – feine schlichte Linien zu den Liedern von Majid Bekkas – und gönnte sich und den anderen viele Momente des Innehaltens, um den Tönen Raum zu gewähren. Da zeigte sich auch, wie viel Sinn für musikalische Dramaturgie der alte Bilderstürmer hat.
Brötzmann wurde vor dem Konzert durch den renommierten Publizisten und früheren Jazzfest-Programmgestalter Bert Noglik der Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik für sein Lebenswerk verliehen. Brötzmann bedankte sich daraufhin herzlich und sagte auf Nogliks fein formulierte Würdigungsrede hin mit seiner sanft knarzenden Stimme: "Nach den vielen schönen Worten jetzt 'n bisschen Musik."
Auch Brötzmanns einstiger Weggefährte Alexander von Schlippenbach (84 Jahre alt), der Leiter des legendären Globe Unity Orchestra, das 1966 in Berlin Weltpremiere feierte, war bei diesem Jazzfest zu erleben: er als Sideman im Quartett "The Bridge" des portugiesischen Tenorsaxophonisten Rodrigo Amado (mit Ingebrit Haker Flaten am Bass und Gerry Hemingsway am Schlagzeug) im Jazzclub Quasimodo. Das war ein frühes Highlight des Festivals mit elektrisierender Free-Jazz-Energie und Momenten voller schöner, archaischer Melodien. Alexander von Schlippenbach sitzt inzwischen sehr gebeugt am Klavier, aber mit ungewöhnlichen Stimmführungen und Akkorden, die sich immer noch ungekünstelt-gekonnt gegen jedes Klischee spreizen, spielte er atemberaubend geistvoll und hochdiszipliniert zugleich.
Ausgerechnet das von der Festivalleitung besonders gepriesene Projekt KOMПOUSSULĂ mit zehn Musiker:innen aus sieben verschiedenen Ländern, unter anderem der Ukraine, Polen, der Türkei und Rumänien, blieb – noch dazu live von den ARD-Anstalten zur besten Sendezeit am Samstagabend übertragen – unausgegoren im Irgendwie-Zusammengepuzzelten stecken. Sängerinnen mit faszinierenden Stimmen sangen Folksongs aus unterschiedlichen Ländern, aber das Publikum wusste nie, aus welchem Land gerade und in welcher Sprache: Denn zu keinem Lied wurde auch nur ein einziger informativer Satz gesagt.
Auch die Mitmusiker auf der Bühne schienen nicht so recht zu wissen, welche Tiefenschichten die Texte der einzelnen Lieder zu bieten hatte (was ganz gewiss der Fall gewesen wäre), denn sie zwitscherten und tönten sehr beliebige Motive und Phrasen dazu. Das Ganze zog sich spannungsarm und war bei oberflächlich bleibender Buntheit eine verpasste Chance, in eine ergiebige Substanz vorzudringen.
Der Gesangs-Performer Ben LaMar Gay sorgte mit Handglocken für besondere Klänge beim Jazzfest Berlin 2022. | Bildquelle: Anna Niedermeier / Berliner Festspiele Großartigen Ausgleich für solche Momente boten Konzerte wie die der Saxophonisten Immanuel Wilkins und Isaiah Collier (an unterschiedlichen Tagen und Orten), zweier Musiker, deren enorme Präsenz und Gestaltungskraft eine aufregende Zukunft versprechen. Und nicht zuletzt das verrückt-spannende Quartett des Kornettisten und Gesangs-Performers Ben LaMar Gay - wie Schlagzeuger Hamid Drake und Cellistin Tomeka Reid Teil des Chicago-Schwerpunkts -, der unter anderem mit einem Intermezzo von in der Luft geschwenkten Hand-Glocken für faszinierende Aha-Momente sorgte. Süßer die Glocken nie swingen. Beim Jazzfest Berlin läuteten sie ein weiteres stark geglücktes Jahr der künstlerischen Leiterin Nadin Deventer aus. Aufs Jubiläumsjahr – zum 60. Jazzfest, das 2023 ansteht – kann sich nicht nur die Jazzwelt, sondern eine neugierige Musikwelt ohne Scheuklappen ohne Einschränkung freuen.
Teil1 bei BR-KLASSIK von 20:05 Uhr bis 00:00
Teil2 bei RBB von 00:00 bis 06:00 Uhr
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