Am 18. Juli 1923 nahm der Jazzpionier Jelly Roll Morton mit den New Orleans Rhythm Kings Platten auf. Was heute alltäglich ist, wurde damals vor der Öffentlichkeit versteckt: Der Pianist war schwarz, die Band weiß.
Bildquelle: BBC
Die New Orleans Rhythm Kings (gerne werden sie als NORK abgekürzt) war eine der eindrucksvollsten und einflussreichsten Bands des traditionellen Jazz. Seit August 1922 machten sie Platten. Und fast jedes Stück, das sie aufnahmen, wurde durch sie ein bis heute vielgespielter Standard des Dixieland-Repertoires: "Farewell Blues", "Bugle Call Rag", "Panama", "That’s A Plenty", "Tin Roof Blues"… Die Musiker aus New Orleans hatten in Chicago zusammengefunden, wo sie quasi die Nachfolge der Original Dixieland Jazz Band antraten, die nach New York abgewandert war. Sie wurden das vielbewunderte Vorbild der jungen Musiker des Chicago Jazz. Anders als die Original Dixieland Jazz Band, die nun in ihrer Bedeutung zurücktrat, gaben sie offen zu, sich an schwarzen Vorbildern zu orientieren. Der französischstämmige Kornettist Paul Mares erklärte: "Wir taten unser Möglichstes, die Musik der Schwarzen so nachzuspielen, wie wir sie zu Hause gehört hatten. Wir taten unser Bestes, aber genau konnten wir ihren Stil nicht kopieren." Mares hatte sich viele Tricks von King Oliver abgeschaut, ihm andererseits selbst einige gezeigt. Der Austausch zwischen schwarzen und weißen Musikern funktionierte ganz gut – jenseits des Scheinwerferlichts. Im Übrigen spiegelte die Band die multiethnische Zusammensetzung New Orleans wider: mit dem Klarinettisten Leon Rappolo, dem Sohn sizilianischer Einwanderer, sowie dem Posaunisten George Brunies, der deutsche und belgische Vorfahren hatte.
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New Orleans Rhythm Kings - Wolverine Blues (1923)
Der Kreole Jelly Roll Morton, der selbsternannte Erfinder des Jazz hatte afrikanische, französische und indianische Wurzeln, was ihn aber in den Augen der amerikanischen Gesellschaft zum Schwarzen machte. Vermutlich hatte der Chicagoer Verlag Melrose sein Händchen im Spiel, als Morton und die NORK gemeinsame Sache machten und nebenbei der rassistischen Gesellschaftsordnung ein Schnippchen schlugen. Melrose hatte von beiden Werke im Programm. Die NORK hatten schon am 13. März 1923 Mortons "Wolverine Blues" aufgenommen, der bei Melrose erschienenen war. Zwei von Mortons Originals wurden während der gemeinsamen Aufnahmesitzungen am 17. und 18. Juli eingespielt: der "London Blues" und "Mr. Jelly Lord". "Milenberg Joys" schrieb Morton gemeinsam mit Mares und Roppolo, währende Walter Melrose den Text schrieb.
Ein weiterer Faktor kam hinzu: Die New Orleans Rhythm Kings gab es zu diesem Zeitpunkt strenggenommen nicht mehr. Sie waren als Band des "Friar‘s Inn" in Chicago gefeuert worden und die Musiker hatten sich in andere Bands gerettet. Gennett wollte aber weitere Platten der gutverkäuflichen NORK produzieren. Deswegen rückte ein Teil der Originalbesetzung mit etlichen Aushilfsmusikern an, darunter der Pianist Kyle Pierce, der einige Stücke mitspielte, und bei anderen von Jelly Roll Morton vertreten wurde. Ihn habe man als Kubaner ausgegeben, erklärte der Posaunist George Brunies später, um lästigen Fragen im Hotel oder im Studio aus dem Weg zu gehen. Die "Jim Crow Gesetze" schrieben unter dem scheinheiligen Slogan "equal but seperate" eine diskriminierende Trennung von Schwarz und Weiß noch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts vor - im Süden der U.S.A., aber auch in Teilen der Nordstaaten nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Sklaverei. Es war aber keineswegs - wie oft behauptet - das erste Mal, dass so etwas im Plattenstudio passierte. Gelegentlich wurden z.B. sogar Bluessängerinnen im Studio von weißen Musikern begleitet. Die einzelnen Bandmitglieder wurden auf den Schellacketiketten meist nicht vermerkt und Plattenhüllen mit Fotos mussten noch erfunden werden. Bands kannte man nicht von Filmen, sie existierten oft nur im Studio, nahmen unter vielen Pseudonymen auf und wurden so meist noch nicht mit Gesichtern identifiziert. Die weißen "Ladd’s Black Aces" spekulierten sogar damit, dass man sie für Schwarze halten würde. Die Schellacks wiesen Jelly Roll Morton nur als Komponisten und nur mit dem Nachnamen aus.
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New Orleans Rhythm Kings - Milenberg Joys (feat. Jelly Roll Morton)
Mit "Milenberg Joys" wollten Jelly Roll Morton und die Co-Autoren Paul Mares und Leon Rappolo dem Erholungs- und Auftrittsort Milneburg am Lake Ponchartrain bei New Orleans ein Denkmal setzen. Doch da auf dem Plattenetikett "Milenberg" steht, hat es sich so eingebürgert. Der Klarinettist Leon Rappolo legte hier eine besondere Glanzleistung hin. Er gilt vielen als erstes weißes Genie des Jazz und war ein starker Marihuana-Konsument. Doch er wurde, vielleicht damit zusammenhängend, immer verhaltensauffälliger. Es heißt, er habe bei Wutanfällen seine Klarinette gegen die Wand gefeuert, um sie dann beruhigt wieder aufzuheben. Er wurde 1925 in eine Nervenheilanstalt gebracht, wo er, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, bis zu seinem Tod 1943 blieb. Sein großartiges Solo aus den "Milenberg Joys" begegnete den Jazzfans 1928 noch einmal. Da ließ sich der Arrangeur Don Redman für die Proto-Swing-Version der "McKinney‘s Cotton Pickers" anregen, ähnlich wie der Arrangeur Bill Challis Soli des Kornettisten Bix Beiderbecke für Paul Whiteman einrichtete. Eine gute Methode, um dem geschrieben Arrangements den Geist des von der Improvisation lebenden Jazz einzuhauchen! Nur fünf Jahre waren seit der Originaleinspielung vergangen, doch der Jazz hatte sich in dieser Zeit unglaublich stark verändert.
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Milenberg Joys - McKinney's Cotton Pickers (arr. by Don Redman) (1928)
So ein Stück, das in seinem heiteren Überschwang ein wenig an den "Tiger Rag" erinnert, lädt zu allen möglichen Späßen ein, auch zu Clownerien auf seltsamen Instrumentarium, mit Waschbrettern und Klopömpeln. In einer frühen Tonfilm-Version von Tal Henry and his North Carolinians spielt ein Musiker ein Solo auf einem seltsamen Instrument, das ihn mit Hupen, Kornett, Mundharmonika, Lotosflöte zur One-Man-Band macht. Er beherrscht das Ungetüm nicht ganz, so kommt es zu einer kuriosen Mischung aus absichtlichem und unfreiwilligem Humor, doch seine falschen Töne nehmen ihm und uns gewiss nicht die Freude an dem Stück: Joyful sind diese "Milenberg Joys".
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Milenberg Joys - Tal Henry and his North Carolinians
All That Jazz am mit Marcus Woelfle: Eine Chronik des Jazz (31): "Wild Cat Blues" - Juli und August 1923.