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Dirigent Jonathon Heyward im Interview Den Kanon neu denken

Auch die Klassik-Szene befindet sich gerade im Umbruch. Da werden neuerdings Fragen gestellt wie: Bilden wir wirklich die gesellschaftliche Vielfalt ab? Müssen wir nicht den eigenen weiß-geprägten Kanon überdenken? Aber auch: Wie gelingt respektvolle Kommunikation zwischen Dirigent und Orchester? Antworten hat Jonathon Heyward.

Jonathon Heyward | Bildquelle: Jeremy Ayres Fischer

Bildquelle: Jeremy Ayres Fischer

BR-KLASSIK: Jonathon Heyward, würden Sie überhaupt von einer Umbruchszeit in der Klassik sprechen? 

Jonathon Heyward: Ja, und ich glaube, Corona spielt dabei keine unwesentliche Rolle. Genauso wie Black Lives Matter. Beides hat uns dazu gebracht, mehr nachzudenken. Sozusagen den Autopiloten auszuschalten: Was tun wir eigentlich? Und warum tun wir es? Die Frage nach Diversität und inwieweit wir in der klassischen Musik diese Idee von Vielfalt angemessen repräsentieren, ist sicher eine wichtige Frage. Und auch eine aufregende Frage: Weil sie uns zum Beispiel in die Lage versetzt, Komponistinnen und Komponisten zu entdecken, die wir vorher gar nicht auf dem Schirm hatten. Aus welchen Gründen auch immer. Und ich betrachte es als eine meiner Hauptaufgaben als Dirigent, zu zeigen, wie ähnlich diese vergessenen Komponisten denjenigen sind, die es in den Mainstream geschafft haben. Das ist mir echt ein Anliegen: Komponistinnen und Komponisten für ein Publikum zu entdecken, das von ihnen vielleicht noch nie gehört hat.

Radio-Tipp

Jonathon Heyward steht am 27. November um 15:05 Uhr im Mittelpunkt von "On stage". Am Pult des National Youth Orchestra of Great Britain dirigiert er Werke von Laura Jurd, Sergej Prokofjew, Jessie Montgomery und Ludwig van Beethoven.

BR-KLASSIK. Sie sind an der Nordwestdeutschen Philharmonie gleich mit einer Aktion angetreten, die auch so ein bisschen nach Umbruch riecht. Sie haben das Publikum gefragt: "Wie stellen Sie sich das Orchester der Zukunft vor?". Was erwarten Sie sich denn von dieser Aktion? 

Jonathon Heyward: Ich glaube, der Sinn dieser Frage besteht darin, dem, was wir tun, mehr Relevanz zu verschaffen. Gerade bei denen, die nicht regelmäßig ins Konzert gehen. Das ist eine Sache, die mich echt umtreibt. Auch weil ich selbst aus einer Familie komme, die nicht viel zu tun hatte mit klassischer Musik. Klar, bei uns gab's Pop, es gab Jazz – aber Klassik spielte eigentlich keine Rolle. Und als ich sie dann entdeckt habe, war ich geradezu schockiert, wie sehr mich diese Musik gekriegt hat, wie relevant sie für mich war. Und ich wünsche mir sehr, dass ich jetzt dazu beitragen kann, dass auch andere diese Erfahrung machen: Dass sie erleben, dass klassische Musik auch Musik für sie ist.

Jonathon Heyward

Der US-Amerikaner gewann 2015 den Internationalen Dirigentenwettbewerbs in Besançon. Für die Saison 2017/2018 wurde er zum "Los Angeles Philharmonic Dudamel Conducting Fellow" gekürt und gab sein Debüt mit dem Los Angeles Philharmonic und der Geigerin Hilary Hahn als Solistin. Seit Beginn des Jahres 2021 ist er Chefdirigent der Nordwestdeutschen Philharmonie.

BR-KLASSIK: Diversität ist mittlerweile auch in der Klassikszene ein großes Thema. Und auch die Frage, warum kaum People of Color in Orchestern zu sehen sind. Sie als Chefdirigent bilden da jetzt eine große Ausnahme, vielleicht können Sie auch Vorbild werden. Wie empfinden Sie das?     

Jonathon Heyward: Wie ich schon sagte – ich glaube, es ist gerade eine gute Zeit, darüber nachzudenken, wie die klassische Musikwelt so funktioniert. Ich denke allerdings, der zentrale Begriff sollte weniger 'Diversität' sein. Für mich liegt darin nämlich die Idee, dass man vor allem Unterschiede betont. Wichtiger finde ich dagegen die Idee der Inklusion. Also auch diejenigen ins Boot zu holen, die momentan noch nicht ins Konzert kommen; auch diejenigen Komponistinnen und Komponisten in den Kanon zu integrieren, die vergessen oder zu wenig beachtet wurden. Mir geht es darum zu zeigen, wie ähnlich die, die wegen ihrer Hautfarbe oder wegen ihres Geschlechts übersehen wurden, denen sind, die es in den Mainstream geschafft haben. Dass ihre Musik dieselbe Qualität hat.

In gewisser Weise bin ich selbst ein Produkt von Inklusion.
Dirigent Jonathon Heyward

Übrigens: Gerade als schwarzer Dirigent kann ich viel mit der Idee von Inklusion anfangen. Meine Mutter hat osteuropäische Wurzeln, halb russisch, halb jugoslawisch. Mein Vater ist gebürtiger New Yorker und wurde in Harlem groß. In gewisser Weise bin ich also selbst ein Produkt von Inklusion. Deshalb bin ich, glaub ich, so interessiert daran, auch mit Blick auf die klassische Musik die Frage zu stellen: Wie können wir das integrieren, mitnehmen, was schon da ist?

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NWD Digital: Jonathon Heyward – Das Antrittskonzert als Chefdirigent der NWD | Bildquelle: Nordwestdeutsche Philharmonie (via YouTube)

NWD Digital: Jonathon Heyward – Das Antrittskonzert als Chefdirigent der NWD

BR-KLASSIK: Meditation und Achtsamkeit sind für Sie ebenfalls wichtige Themen. Inwiefern verändern sie Ihren Alltag? Inwiefern fließen sie in Ihre Orchesterarbeit ein?

Jonathon Heyward: Was mir daran so gefällt, ist, jeden Tag daran erinnert zu werden, dass Übung ganz entscheidend ist. Meditation ist ja etwas, woran man Tag für Tag arbeiten muss. Und mit Blick auf die Musik: Ich glaube, es hilft mir dabei, von Projekt zu Projekt zu switchen, mich auf jedes Konzert neu eizustellen – letztlich auf jeden Komponisten. Ich habe als Dirigent ja die Aufgabe, seinen Charakter zu verkörpern, seinen Stil, seine Sprache. Und damit das gelingt, muss man sehr im Moment sein; achtsam, offen, um wahr- und aufzunehmen, was einem die Musik anbietet. Ich denke, meine tägliche Meditation hilft mir dabei, diese Gestaltwechsel hinzubekommen. Und am Ende hoffe ich natürlich auch, dass das für das Publikum spürbar wird.

Sendung"Leporello" am 1. Juni 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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