"Mit Herz und Mund und Tat und Leben" – den Titel für seine Lebenserinnerungen hat sich der Regisseur Jürgen Flimm bei Johann Sebastian Bach "ausgeliehen", ein Komponist, der ihn schon als Kind geprägt hat. Flimms Theaterkarriere hat an den Münchner Kammerspielen begonnen. Später war er Intendant in Köln, Hamburg und Berlin, Leiter der Ruhrtriennale und der Salzburger Festspiele. 50 Jahre lang hat Flimm Theater und Musiktheater gemacht. Seine Memoiren musste er sich der schweren Erkrankung seiner letzten Lebensjahre abtrotzen. Jetzt sind sie erschienen – ein Jahr nach seinem Tod.
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Der Beginn dieser Lebenserinnerungen ist vielversprechend: der Ausflug in die Kindheit, das Aufgehobensein bei der Großmutter, die erste Begegnung mit Bachs "Matthäuspassion". Und dann, nach der Schule, die vermeintliche große Freiheit: "Als das Abitur endlich hinter uns lag, betranken wir uns am Kölsch, ich zitterte nach Hause, brach meinen Schlüssel im Schloss ab, kletterte auf der nachbarlichen Obstleiter auf unseren Balkon, schlich auf Zehenspitzen durch das Zimmer meiner lieben Großmutter und fiel vornüber auf das Bett und in einen schönen Schlaf. Nie mehr wollte ich tun, was ich nicht tun wollte, schwor ich mir."
Nie mehr wollte ich tun, was ich nicht tun wollte.
Jürgen Flimm: Cover der "Erinnerungen", erschienen beim Verlag Kiepenheuer&Witsch | Bildquelle: KiWi
Nach diesen ersten mit viel Atmosphäre aufgeladenen Seiten kommen die Erinnerungen wie ein Sturzbach über den Ich-Erzähler. Roswith, die erste Liebe: "blond mit einem Bubikopf", der Schulkamerad Johannes "der beste Freund, den man sich denken konnte." Ein Schlaglicht jagt das andere. Jürgen Flimm hat Mühe, sie alle zu bändigen. Manche bleiben seltsam banal: "Die Kunst, was das auch immer umgreifen mochte, war unser Ziel." Andere sind sehr gelungen, wie das prägnante Portrait des Akkordeon spielenden Bruders. Oder der Bericht vom Hör-Schock bei Bernd Alois Zimmermanns Oper "Die Soldaten": "Elektronische Cluster, hoch wie Wolkenkratzer, chaotisch wie die Großstadt, ein Inferno, so musste es im Kopf des Komponisten geklungen haben, tobende Unordnung."
VIELE NAMEN, VIEL HEKTIK
Tobende Unordnung ist auch das Konstruktionsprinzip dieser Memoiren: ein Innerer Monolog über 350 Seiten, ein Erinnerungs-Tsunami, manchmal faszinierend, oft ermüdend, in der Chronologie extrem zwischen den Jahrzehnten hin- und herspringend. Stockhausen und Maderna schauen kurz vorbei, Luigi Nono und John Cage, Josef Beuys und Pina Bausch – wir werden mit Namen beworfen, aber kaum mit Erlebnissen unterhalten.
Dieses Buch wird lieben …
… wer all den großen Mimen der Vergangenheit wiederbegegnen möchte (wenn auch nur als kurzer Flash).
Dieses Buch liest man am besten …
… kapitelweise. Die schönen, stimmigen immer wieder, die anderen gern quer.
Dieses Buch …
… erzählt zu wenig vom besonderen Leben eines besonderen Künstlers.
Anrührend und witzig sind Flimms Familiengeschichten: das Puppentheater, mit dem er als Neunjähriger von einem Onkel zu Weihnachten beschenkt wird; die entsetzten Reaktionen seiner Eltern, als er kundtut, Regisseur werden zu wollen: "Warum er denn, bitte schön, nicht Pastor werde, wo er doch so schön aus der Bibel lesen konnte!"
Nie war ich so einsam, so berstend abgefüllt mit Heimweh.
Flimm hat mit Hunderten von Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet – und alle finden sie Erwähnung. Erwähnung, ja, aber meist nicht mehr, obwohl er auf sie nichts kommen lässt. Sie sind "Meister ihres Fachs", "liebreizend", "fast unübertrefflich". Was ihre Kunst ausmacht, erfahren wir nicht. Doch immer wieder wirft uns Flimm glitzernde Schmuckstücke zwischen die langatmigen Beschreibungen: wenn er in wenigen Strichen seine "Onkel Wanja"-Inszenierung aufruft. Oder uns von seiner Verlorenheit bei seinem ersten New York-Besuch erzählt: "ein solches Monstrum aus zuckenden Lichtern, Geräuschen, Sirenen, Hupen … so grell, so rabiat wie ein Überfall. Nie war ich so einsam, so berstend abgefüllt mit Heimweh."
Dieses Buch ist (in seiner Summe) weniger der Einblick in ein Künstlerleben, als ein ständiges sich Rückversichern, wie wichtig man war, wie hellsichtig und wie besonders. Ein energisches Lektorat wollte da wohl einem kranken Mann nicht mehr in die Parade fahren. Hätte sich aber gelohnt, auch wegen der falschen Jahreszahlen, verkehrten Vornamen und der groben Grammatikfehler, die ganze Sätze verhunzen. Jürgen Flimms Lebenserinnerungen – nur ein halbes Lesevergnügen. Schade.
Jürgen Flimm:
"Mit Herz und Mund und Tat und Leben“
Erinnerungen
Kiepenheuer und Witsch, 2024
349 Seiten, 26,00 Euro
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