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Singen in Zeiten von Corona Kinderchöre bald vor dem Aus?

Die Mädchen- und Knabenchöre in Bayern leiden unter den Coronabeschränkungen. Der Lockdown hat sie zurückgeworfen, die Proben sind nur eingeschränkt möglich und Konzerte fallen aus. Für manchen Chor könnte die Pandemie das Aus bedeuten.

Bildquelle: dpa-Bildfunk

Corona-Krise

Wie geht es Mädchen- und Knabenchören?

Christian Fliegner ist ärgerlich. Der künstlerische Leiter des Tölzer Knabenchors fühlt sich vom Freistaat im Stich gelassen. Denn durch Corona musste er bisher ein Drittel aller Konzerte dieses Jahres absagen, was einen sechsstelligen Verlust bedeutet. Schließlich finanziert sich der Chor zur Hälfte aus diesen Einnahmen. Immerhin halten großzügige private Spender den Chor über Wasser.

Ich weiß nicht, ob es den Tölzer Knabenchor nächstes Jahr noch gibt.
Christian Fliegner, Künstlerischer Leiter

"Warum dürfen Flugzeuge voll besetzt abheben?", fragt sich Fliegner. "Und die Wirtshauswiesn kann ebenfalls feuchtfröhlich stattfinden." Das Konzertpublikum sei doch viel gesitteter und würde Masken tragen, außerdem seien die Säle viel größer und höher. "Wenn die Weihnachtskonzerte wegen Corona auch noch wegbrechen, dann weiß ich nicht, ob es den Tölzer Knabenchor nächstes Jahr noch gibt", befürchtet Fliegner.

Fußball und Kommerz wichtiger als Kultur?

Tölzer Knabenchor beim Proben in Corona-Zeiten | Bildquelle: BR/Ulrich Trebbin Proben beim Tölzer Knabenchor: Wenige Sänger und viel Abstand | Bildquelle: BR/Ulrich Trebbin Außerdem dürfen zum Beispiel von den 74 Buben seines Konzertchors nur dreißig gleichzeitig proben, denn sie müssen einen Abstand von zwei Metern zueinander einhalten. Außerdem muss alle zwanzig Minuten für zehn Minuten gelüftet werden und das kostet Zeit. Von den übrigen Auflagen ganz zu schweigen. "Wir haben beim Gesundheitsministerium angefragt, ob wir wieder ganz normal proben dürfen, wenn wir uns wie der FC Bayern zwei Mal die Woche auf Corona testen lassen, aber es gab keine Genehmigung dafür. Warum darf das der FC Bayern? Warum sind Fußball und Kommerz wichtiger als die Kultur?", fragt Fliegner. Das Kunstministerium beantwortet diese Frage nur allgemein: Das seien unterschiedliche Bereiche, die unterschiedliche Vorgaben erforderten: "Dass die Einschnitte für die Laienmusik sehr schmerzlich sind, steht außer Frage. Doch mit Blick auf den Gesundheitsschutz sind sie aktuell notwendig, um der Pandemie zu begegnen. Gerade gegenüber den Kindern wie den Chorknaben besteht eine besondere Verantwortung."

Die Jungs wollen wieder singen.
Marcus Weigl, Regensburger Domspatzen

Karl-Heinz Liebl dirigiert während des Chorfestivals "Pueri Cantores" im Neumünster in Würzburg (Unterfranken) den Nachwuchschor der Regensburger Domspatzen.  | Bildquelle: dpa-Bildfunk Aus besseren Zeiten: Die Regensburger Domspatzen möchten wieder im Dom singen. | Bildquelle: dpa-Bildfunk Den Regensburger Domspatzen geht es nicht besser. Die Herbsttournee musste der Chor von zehn bis zwölf Auftritten auf zwei bis drei Konzerte zusammenstutzen. Auch hier gebe es bisher ein Defizit im unteren sechsstelligen Bereich. Außerdem brauchen die Sänger die Konzerte zur Motivation: "Die Jungs wollen wieder singen. Die letzten Monate waren für uns alle furchtbar", klagt Marcus Weigl von den Domspatzen. "Wir wollen wieder Sonntag für Sonntag im Dom, unserer Heimat, singen und auf die Bühnen der Welt zurückkehren." Auch den Regensburger Domspatzen macht es zu schaffen, dass sie nur in kleinen Besetzungen proben können.

Sorge um die Qualität der Chöre

Christian Fliegner von den Tölzer Knaben fürchtet außerdem um die Qualität der Stimmen. Eine Pause wie beim Lockdown lasse sich nur schwer aufholen, und das aktuell immer noch stark eingeschränkte Proben schade der Qualität des Chores weiter. "Man muss bedenken, dass die Karriere eines Sängerknaben kurz ist, denn die Buben kommen immer früher in den Stimmbruch."

Die Karriere eines Sängerknaben ist kurz.
Christian Fliegner, Tölzer Knabenchor

Immerhin stellt er fest, dass es den Kindern andererseits auch gut tut, mit viel Abstand zu proben. Denn zurzeit können sie sich nicht so sehr an ihre Nachbarn stimmlich anlehnen und singen dadurch selbständiger und sicherer.

Der Nachwuchs bröckelt

Windsbacher Knabenchor | Bildquelle: © Mila Pavan Knaben- und Mädchenchöre in ganz Bayern verzeichnen deutlichen Rückgang bei Neuanmeldungen. | Bildquelle: © Mila Pavan Eine weitere Sorge: Die Chöre können derzeit nur sehr eingeschränkt um Nachwuchs werben. Tage der offenen Tür sind wegen Corona ebenso unmöglich wie Besuche und kleine Auftritte in den Schulen. Die Bamberger Mädchenkantorei konnte in diesem Jahr nur sieben neue Sängerinnen gewinnen, bei den Buben waren es sogar nur sechs. In früheren Jahren waren es dagegen noch rund 25 Kinder pro Jahrgang. Auch der Windsbacher Knabenchor meldet deutliche Rückgänge, dort haben sich heuer 18 Buben angemeldet. Die Regensburger Domspatzen vermeldet 34 neue Fünftklässler, also fünf bis zehn weniger als sonst. Beim Tölzer Knabenchor läuft die Werbeaktion jetzt im Herbst an, Chorleiter Christian Fliegner fürchtet aber ebenfalls einen deutlichen Rückgang.

Singen im Chor als gesellschaftlicher Kitt

Der Bamberger Domkapellmeister Werner Pees ist sehr besorgt über die ganze Situation. Er hört von vielen Chorleitern, dass sie um den Fortbestand ihrer Chöre bangen. "Das wäre ein schmerzlicher Verlust", sagt Pees. "Denn die Chöre wirken als gesellschaftlicher Kitt. Wenn Chöre sterben, wird dies Auswirkungen auf das Zusammenleben eines Dorfes, einer Stadt oder einer Pfarrei haben."

Kinder sind glücklich, wenn sie eine Stunde gesungen haben.
Werner Pees, Bamberger Domkapellmeister

Er hat in vierzig Jahren erfahren, wie sehr das Singen im Chor die Persönlichkeit junger Menschen bildet: Man muss aufeinander hören, Verantwortung tragen und Rücksicht nehmen. Außerdem würden alle die Erfahrung machen, wie schön es ist, in der Gemeinschaft etwas auf die Beine zu stellen. Und: "Ich sehe immer wieder, wie glücklich Kinder sind, wenn sie eine Stunde gesungen haben. Die sind entspannt und ausgeglichen, und plötzlich sind Krämpfe weg, die von den Hausaufgaben oder vom Sitzen kamen. Insofern ist Singen sehr heilsam."

Sendung: "Allegro" am 1. Oktober 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK.

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