Während der Corona-Krise mussten viele Konzerte und Opernaufführungen gestrichen werden. Und auch nach den Lockerungen mit einer Saal-Auslastung von 50 Prozent kann so manches geplante Programm nicht realisiert werden. Kleine Besetzungen sind möglich, bei großen Besetzungen wird es schwierig. Je weniger Menschen auf einer Bühne stehen, desto geringer das Risiko. Große Chöre: ein andermal! Orchestermassen: bloß nicht! Das hat, finden die einen, auch etwas Gutes: Denn schlanke Besetzungen haben ihre eigene Schönheit. Wie schön und wichtig ist das musikalisch Nicht-Reduzierte?
Bildquelle: FestivalWissembourg (via YouTube)
In schwierigen Zeiten kann man Dinge neu entdecken. Sie neu bewerten. Schätzen lernen. Die letzten zwei Jahre lenkten die Aufmerksamkeit wieder mehr darauf, wie schön und wie stark doch Musik in kleinen Besetzungen sein kann. Quartette, Trios, Duos. Und nicht zuletzt: Solo-Auftritte. Das ermöglicht Musik, die radikal leise und auf das Wesentliche reduziert ist. Seit Joseph Haydn haben Komponisten die höchste Kunst und spätestens seit Beethoven den innigsten Empfindungs-Ausdruck immer wieder in Streichquartette gelegt. Da konnten sie mehr experimentieren als in Symphonien. Und persönlicher, intimer klingen.
Musik wie diese ist eine willkommene Einladung zum genaueren Hinhören. Zum Eindringen in die Musik – anstelle eines Sich-Überwältigen-Lassens von Klang-Massen. Das Leise, das Zurückgenommene, Klänge, auf die man sich zubewegen muss: Genau das braucht eine reizüberflutete Welt besonders. Als Refugium für gestresste Seelen. Als ruhigen Raum für Gedanken. Und zudem: Kleine Besetzungen kosten auch weniger Geld. Das leuchtet vielen Menschen sicher als erstes ein.
"In des Welt-Atems wehendem All, ertrinken, versinken." Und weiter geht es mit: "Unbewusst – höchste Lust." So heißt es bei "Tristan und Isolde" von Richard Wagner. Ein Mann großer Orchesterbesetzungen und überhaupt riesiger Dimensionen. Auch andere, Hector Berlioz und Gustav Mahler, aber auch Kaija Saariaho und Chaya Czernowin haben innigen Ausdruck und ganz hohe Kunst in sehr große Klangkörper gepackt.
Ein Versinken, das mit lustvollem Im-Klang-Ertrinken einhergeht. Manche Musik funktioniert auch nur so. Schon mal das "Rheingold"-Vorspiel nur vom Klavier gehört? Da wogen keine Wellen, und die Rheintöchter sitzen auf dem Trockenen. Die letzten beiden Jahre haben die Ohren geschärft für kleine Besetzungen – aber in ihnen wurde auch wie selten zuvor deutlich, wieviel es bei den großen zu vermissen gibt.
Viele Stimmen in einem Chor und einem Orchester sind nicht bloß Luxus. Sie sind Ausdrucksmöglichkeiten. Kunst muss alles dürfen: auch laut und breit und unmäßig sein. Und leise und schlank: dann, wenn sie es will – und nicht wenn ein Virus oder andere Zwänge es wollen. Sonst bricht eine wirklich dauerhaft schwierige Zeit an. Eine weniger innige – eine musikalisch magere.
Sendung: "Allegro" am 18. März 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (2)
Dienstag, 22.März, 13:06 Uhr
Beate Schwärzler
"Manchmal möcht' ich schreien ... !"
Lieber Herr Spiegel,
schon witzig, das: Daß ich mir endlich, endlich die Zeit und Ruhe nehme, Ihr "Plädoyer für Diversität" in der Musik in aller Ruhe, Satz für Satz und von vorn bis hinten durchzulesen, -
nachdem ich kurz zuvor das Radio wieder auf eine nachbarschaftsfreundliche Lautstärke heruntergedreht hatte -
nachdem die "Orgelsinfonie" von Camille Saint-Saens im Radio verklungen war.
Weil diese Orgelsinfonie - die l i e b e ich. Da gehe ich immer in die Vollen. Da kenn' ich keine Nachbarn. Aber sonst ... bin ich eher leise.
Herzlich grüßt
(s.o.)
Freitag, 18.März, 14:54 Uhr
Julia Krenz
große Musik
Herrlich, vielen Dank Herr Spiegel !
fast als besonderes Geschenk habe ich heute Vormittag dann Brahms Sinfonie no 4 bei Ihrem Sender hören dürfen. Das ist für mich im besten Sinne laute und große Musik. Das ist nämlich auch gut für die Seele: Volumen und Großzügigkeit in der Besetzung...