Unser Autor ist auf Entzug. Kirill Petrenko ist weg. Seitdem der Dirigent die Bayerische Staatsoper verlassen hat und zu den Berliner Philharmonikern entschwunden ist, fehlt der Kick im Konzert. Diese einzigartige Mischung aus Präzision und Emotion. Die Power, die der wahrscheinlich penibelste Dirigent der Welt am Pult entfacht. Zum Glück gibt's das Radio. Lindert die Entzugsschmerzen zumindest ein bisschen. Die Lücke, die bleibt jedoch. Am 11. Februar wird Petrenko 50. Höchste Zeit für eine Hommage von BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff.
Bildquelle: Wilfried Hösl
Zugabe – Eine Hommage an Kirill Petrenko
Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Vielleicht kennen Sie das: Sie schalten das Radio ein, Musik läuft – und es rattert im Kopf. Vielleicht haben Sie das Stück schon mal gehört, vielleicht haben Sie sogar Spaß daran, den Komponisten zu raten. Für mich ist das ehrlich gesagt ein kleiner Sport. Blindverkostung sozusagen. Alle Vorurteile sind ausgeschaltet.
In diesem Moment, wenn ich der Versuchung widerstehe, auf den Radiotext zu schielen, schlägt für mich als Musikkritiker eine Stunde der Wahrheit. Kein Bild, kein Name, nur die Kunst selbst. Schaffe ich’s, den Interpreten, die Interpretin zu erkennen? Und, noch viel spannender für mich: Wie wird mein Höreindruck dazu passen, was ich bisher über die betreffende Künstlerin gesagt habe?
Manchmal gibt es Enttäuschungen, wenn ich bei der Absage erfahre, wer’s war: Ok, der ist doch nicht so toll, wie ich dachte. Viel schöner sind die Momente, in denen ich positiv überrascht bin: Wow, das hätte dem oder derjenigen gar nicht zugetraut! Am Schönsten ist es natürlich, wenn eine einmal gefasste Vorliebe auf diese Weise besiegelt wird.
Süchtig: BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff | Bildquelle: Lisa Hinder
Genau so geht es mir, wenn ich in eine Aufnahme von Kirill Petrenko hineingerate. Da läuft Tschaikowsky oder Mahler im Radio, ich weiß nicht, wer spielt und finde es herausragend – Bingo, es ist sein neues Album. Und leider bin ich ja mittlerweile auf Aufnahmen angewiesen. Denn seit er nach einer dramatischen Wahl, die mehrmals ergebnislos geblieben war, zum Chef der Berliner Philharmoniker berufen wurde und sich letztes Jahr von München verabschiedet hat, fehlen mir die Petrenko-Live-Erlebnisse.
Die sind unvergesslich. Zuletzt der Münchner "Tristan" im vergangenen Sommer. Von der Dirigentenleistung her der beste, den ich live gehört habe. Und das gilt für so vieles. Auch für Brahms. Ich erinnere mich an eine tagelang nachwirkende Aufführung der "Vierten" im Oktober 2017. Dieses Lieblingsstück, das ich in- und auswendig kenne, klang verjüngt, krass – der unbürgerlichste, ekstatischste Brahms, den ich je live gehört habe. Dabei trotzdem strukturell unglaublich ausgefuchst: So viele Details und Zusammenhänge habe ich neu begriffen!
Die Musikerinnen und Musiker des Bayerischen Staatsorchesters spielten wie um ihr Leben – und das lustvoll: Denn sie wussten ja, dass alles gut gehen würde. Das ist der Zauber bei Petrenko: Weil er so klar schlägt und weil er in den Proben so penibel ist, kann er im Konzert alles riskieren. Diese Entfesselung scheint auf die Musikerinnen und Musiker wie eine Droge zu wirken, die gerade deswegen so flasht, weil er vorher so nüchtern gearbeitet hat.
Für mich sind diese Live-Erlebnisse beglückend. Warum? Petrenko zeigt, dass Kopf und Bauch, Emotion und Verstand in der Musik zusammenfinden. Und zwar nicht nur in friedlicher Koexistenz. Sondern sie steigern sich gegenseitig: Das Staunen über die Struktur verstärkt noch den Rausch des Gefühls. Natürlich gibt es diese Glücksmomente nicht an jedem Petrenko-Abend. Aber doch ziemlich oft. Da war ich früher verwöhnt – und bin jetzt auf Entzug. Zum Glück kommt er manchmal im Radio.
Sendung: "Allegro" am 11. Februar ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (4)
Freitag, 11.Februar, 16:21 Uhr
Beate Schwärzler
Kirill Petrenko zum 50. Geburtstag
Lieber Bernhard Neuhoff,
D a n k e ! Um diese "Zugabe" zu hören habe ich heute auf die Gymnastik verzichtet.
Es hat sich gelohnt.
Kirill Petrenko hat sich mein Herz erobert am 1. Mai 2020, bereits ein Corona-Konzert, -
in Berlin, die Bühne sehr übersichtlich besetzt mit seinen Musikern, den Blick in den leeren
Saal, ohne Publikum, haben die Kameraleute den Menschen vor dem Fernseher erspart.
Und dann Kirill Petrenko ... Kirill Petrenko, der rumhüpft wie Rumpelstilzchen vor seinen
Musikern und sie dabei zu höchstem Einsatz inspiriert und dirigiert.
Da - hat er mein Herz erobert. Sodaß ich im Jahr drauf, 2021, in der Sagrada Familia in Bar-
celona dabei sein wollte am 1. Mai, wenn die Berliner Philharmoniker dort spielen. ...
Hélas ! Fiel ganz aus.
Drum doppelten Dank Ihnen, Herr Neuhoff, für diese Würdigung.
Freitag, 11.Februar, 11:32 Uhr
Wilfried Schneider
ACH, DIESE LÜCKE
Nimmt denn dieser Hype um diesen nach meiner unwesentlichen Meinung ziemlich überschätzten Dirigenten kein Ende? Ja, ich weiß, Kleiber, Sawallisch, Böhm, Toscanini, Jansons, Mehta und viele andere Dirigenten waren im Vergleich zu diesem Herrn blutige Anfänger. Petrenko war mehr als perfekt, er war hyperperfekt, er war offenbar so perfekt, dass es mir leider nicht auffiel. Dass dieser Herr auch nur mit Wasser kochte, manchmal auch einem ziemlich trüben, fiel so manchem, der sein Gehör nicht beim Eintritt in das Nationaltheater abgab, spätestens dann auf, wenn Oksana Lyniv von ihm übernahm. Ich sage nur "La clemenza die Tito"! Nun ja, laut war´s, so mein Fazit, bei Petrenko fast immer.
Freitag, 11.Februar, 09:02 Uhr
KOESTER Jan
Kiryll Petrenko
Hochinteressant
Freitag, 11.Februar, 09:00 Uhr
KOESTER Jan
KiryllPetrenko
Bitte Lesen