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Kritk – Aix-en-Provence Hinter tausend Streben keine Welt

Das Festival in Aix-en-Provence startet mit einem Gluck-Marathon: Gleich beide "Iphigenie"-Vertonungen hat der Regisseur Dmitri Tcherniakov inszeniert, flankiert von Emmanuelle Haïm im Orchestergraben. Hat den Überblick zwischen Tauris und Aulis: die BR-KLASSIK-Kritik.

Szene aus "Iphigenie en Aulide" von Gluck beim Festival in Aix-en-Provence 2024 | Bildquelle: © Monika Rittershaus

Bildquelle: © Monika Rittershaus

Natürlich liegt die Sache irgendwie auf der Hand. Christoph Willibald Gluck schrieb zwei Opern über Iphigenie und ihre mythologischen Nachbarn, warum also nicht daraus einen Marathon machen und sie zusammenschalten? "Iphigénie en Aulide" wurde 1774 in Paris uraufgeführt und besitzt eine eher überschaubare Handlung. Die Titelfigur soll geopfert werden, um die wegen einer Windstille festsitzenden Flotte der nach Troja gierenden Griechen loszueisen. Dazu kommt eine kleine Verlobungsuntreuegeschichte, weiters will Vater Agamemnon seine Tochter opfern, doch im letzten Moment schreitet die Schicksalsgöttin ein und alles wird gut.

Von Aulis nach Tauris: stets mit göttlicher Hilfe

Fünf Jahre später veroperte Gluck "Iphigénie en Tauride", nun ist das ehemalige Fast-Opfer Priesterin und muss sich mit seltsamen Träumen und konkreten Dingen herumschlagen. Etwa mit der Ankunft ihres (zunächst von ihr unerkannten) Bruders Oreste und seines Gefährten Pylade. Sie sollen - man ahnt es - geopfert werden, doch Pylade entrinnt dank Iphigénie seinem Schicksal und Oreste will sterben. Auch hier wird von oben eingegriffen...

Am Pult: Emmanuelle Haïm

Die Vorlage stammt von Euripides, Gluck hat im ersten Fall (Aulis/Aulide) eine eher gemächliche, oft vor sich hin tröpfelnde Oper daraus gemacht, wenn es nach Tauris geht, wird die Musik konturierter, flötenzentrierter, effektvoller, haptischer. Emmanuelle Haïm dirigert ihr Ensemble Le Concert d'Astrée nebst Chor und lässt dem Graben des Aixer Grand Théâtre de Provence manch schönen, griffigen, auch lauten Klang entströmen. Gelegentlich hapert es jedoch mit der Koordination zwischen Bühne und Orchester, zudem wäre bei einem (inklusive Dinner-Pause) fünfeinhalbstündigen Abend ein Zugriff à la Marc Minkowski (der im Saal saß) nicht so ermüdend gewesen. Denn arg oft schlägt Haïm Glucks einst revolutionäre Musik einfach so durch, den Auftakt der Tauride-Oper wird mit übersteuerten Effekten zwar kräftig aufgemöbelt, aber das Gesamtbild bleibt zu behäbig und schattig.

Behäbig und schwach: Regie von Dmitri Tcherniakov

Was freilich exzellent zur extrem schwachen Regie von Dmitri Tcherniakov passt. Was hat dieser Regisseur schon für Geniestreiche geboten! Und selbst wenn er sich mal arg verhedderte (wie etwa zuletzt im "Ring des Nibelungen" an der Berliner Staatsoper), gab es zumindest Schau- und Nachdenkwerte. Diesmal allerdings geht die Chose gewaltig daneben. Tcherniakov hat sich wie immer seine eigene Bühne gebaut, wir sehen viele Streben, dahinter zwei Schlafzimmer, Sitzgelegenheiten, beim Umzug von Aulis nach Tauris fehlen dann die meisten Möbel, dafür werden die Streben mit Licht immer neu und anders beleuchtet.

Der Chor bleibt im Orchestergraben

Erzählt wird eine banale Familiengeschichte, mit Griff in die Psychokiste. Iphigénie erlebt stellvertretend Gewalt und Opferung, sie sieht das und wird traumatisiert. Elektra und Orest huschen als Kinder herum, doch wirkliche Funken schlägt Tcherniakov aus diesen wenigen Ideen nicht. Auf Tauris herrscht dann Krieg, leider auch was die Personenführung betrifft. Es wird szenisch outriert und pathetisch gekämpft, letzteres geht bisweilen an die Grenze zur Karikatur. Der Chor bleibt bequemerweise, bis auf ein paar Schlussmomente, gleich ganz im Graben, das vermeidet halt Inszenierungsherausforderungen. Es ist ein ungemein langatmiger, uninspirierter Abend, der sich ebenso plakativ wie unsinnlich dahinschleppt.

Uninspirierte Regie, starke sängerische Leistungen

Schade, dass das hervorragende Ensemble auf der Bühne derart unterfordert wirkt! Véronique Gens singt eine wundervoll zwiespältige Clytemnestre, mit warmem Edelklang, aber auch schroffen Ausbrüchen. Florian Sempeys kerniger Oreste duelliert sich mit dem vokal ebenfalls starken Pylade von Stanilas de Barbeyrac. Russell Browns Agamemon ist vielleicht eine Spur zu leicht besetzt. Triumphal indes Corinne Winters als doppelte Iphigénie, sie beherrscht das ganze Register an Trauer- und Wuttönen, man hört helle, aber weiche Spitzentöne ebenso wie wilde vokale Emanzipation. Mit einem Wort: iphigenial!

Sendung: "Leporello", 04.07.2024 ab 16:05 Uhr

Kommentare (1)

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Donnerstag, 04.Juli, 15:38 Uhr

Anna Döpfner

Iphigenie in Aix

Ich muss ein anderes Stück gesehen haben als der Rezensent.
Wir waren nach dem fantastischen "Ring" in unserer Heimatstadt Berlin zu Viert nach Aix angereist, während der Aufführung ergriffen bis zum Schluss und danach noch lange sehr bewegt von der Tiefe und gleichzeitigen Aktualität dieser differenzierten Inszenierung. Die Zustandsschilderung einer Gesellschaft nach einem Krieg zu Beginn des 2. Teils der Aufführung erschütternd. Beim Frühstück ging die Diskussion gleich weiter. Wir sind dem Regisseur dankbar für diese innere Bereicherung.

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