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Kritik – Maazels "1984" in Regensburg Rummelplatz der Wahrheiten

Seit der Uraufführung 2005 in London hatte diese Oper keinen sonderlich guten Ruf. Der Regensburger Intendant Sebastian Ritschel ließ sich davon nicht abschrecken. An seinem Haus fand die Deutsche Erstaufführung des Werkes statt. Mit der musikalischen Geisterbahnfahrt nach dem berühmten Roman von George Orwell landete er einen Publikumserfolg.

Bildquelle: Marie Liebig

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Früher gab es ja nur eine Wahrheit, die allerdings keiner kannte, außer vielleicht der liebe Gott. Seit die "alternativen" Wahrheiten erfunden wurden, unter anderem von Donald Trump, steht der Himmel der Erkenntnis jedem offen, sogar Leuten, die sich für die Wahrheit gar nicht sonderlich interessieren. Es hat also seinen Sinn, dass Sebastian Ritschel, der Intendant des Theaters Regensburg, in seiner ersten Spielzeit am Haus nach Wahrheiten sucht – was durchaus eine Quälerei sein kann, allerdings eine lohnende und inspirierende.

"1984" von George Orwell längst Realität

Franz Kafkas düsterer Justiz-Albtraum "Der Prozess" passte zum Beispiel in der Opernfassung von Gottfried von Einem hervorragend zu diesem Motto, und in George Orwells berühmter Zukunftssatire "1984" geht's ja eigentlich ausschließlich um die Wahrheit, die sich in einer Diktatur stündlich ändert. Sogar die Vergangenheit wird permanent umgeschrieben, damit die Gegenwart allzeit recht behält. Hörte sich noch vor ein paar Jahren eher nach Nordkorea an, ist inzwischen aber leider sowohl in Teilen der USA, als auch in Russland, Ungarn, Polen, der Türkei und anderen Ländern Mode geworden. Sebastian Ritschel: "Tatsächlich ist dieser Orwell-Stoff leider sehr aktuell. Wir alle schleppen unser Handy mit uns herum, lassen uns tracken, sind dauerhaft online. Keine Sorge, die Inszenierung ist nicht an unseren Zeitgeist angepasst, um das Zeitlose des Stoffes nicht zu verraten, aber das Thema ist in den letzten zwei Jahren leider erschreckend aktuell geworden."

Oper bei der Uraufführung in London durchgefallen

Inszenierung der Oper "1984" von Lorin Maazel am Theater Regensburg  | Bildquelle: Marie Liebig Bei der Uraufführung in London fiel Maazels Oper "1984" durch. Jetzt feierte das Werk in Regensburg seine Deutsche Erstaufführung. | Bildquelle: Marie Liebig "1984" ist also das Stück zur Stunde, und es ehrt Sebastian Ritschel, dass er sich nicht scheute, die Oper von Lorin Maazel selbst zu inszenieren. Einen guten Ruf hat das Werk nicht: Es gab bisher nur eine einzige Inszenierung, und die wurde bei der Uraufführung als zu seicht und unentschlossen verrissen. Maazels Witwe Dietlinde Turban Maazel erklärt sich das damit, dass es die britische Presse seinerzeit für ein Sakrileg hielt, George Orwells legendären Klassiker zu vertonen, noch dazu, wo Maazel Amerikaner war: "Ach, er war traurig und enttäuscht, weil er schon das Gefühl hatte, dass man bei der starken Botschaft von Orwell und seiner Musik anders reagieren würde. Aber er war ein scheuer Mensch, was keiner wusste, weil er es gut überspielen konnte, damit haben sie ihn immer wieder erwischt. Er war so gar kein Leonard Bernstein, nach dem Motto, tatata, hier bin ich. Das wurde ihm als Arroganz ausgelegt. Und auf Arroganz reagierte die Presse natürlich entsprechend und sagte sich, naja, wenn er sich das auch noch als Produzent leisten kann, dann soll er mal!"

Emotionale Klanglawinen statt Handlung

Unterhaltsam ist diese Oper, das lässt sich nicht bestreiten, zumal Sebastian Ritschel sie als sein eigener Licht- und Kostümdesigner bildmächtig und spannend inszeniert hat. Wenn sich etwas gegen Maazel einwenden lässt, dann ist es sein Hang zum Illustrieren der Handlung, statt sie zu analysieren, sein Faible für emotionale Klanglawinen, die stets etwas unvermittelt abgehen und hier und da arg aufdringlich den Effekt suchen. Auch die absolute Humorlosigkeit macht den fast dreistündigen Abend musikalisch etwas schwergängig: Das hat Terry Gilliam mit seiner unvergessenen Filmadaption "Brazil" (1985) abwechslungsreicher hinbekommen.

Sebastian Ritschel erzählte die Geschichte vom Mann, der zum "Gedankenverbrecher" wird, also am Regime zweifelt und dafür einer Gehirnwäsche ausgesetzt wird, eng an der literarischen Vorlage. Ein Käfiggestänge dominiert die Bühne. Bildschirme, auf denen Scanner-Balken ihre Umgebung abtasten, signalisieren die totale Überwachung. Die Liebenden schweben zeitweise scheinbar entrückt in der nachtschwarzen Kulisse, doch dieser Moment des Glücks im Terrorstaat bleibt Illusion.

Originalpartitur angepasst

Für ein Haus wie das Theater Regensburg ist es eine gewaltige Leistung, dieses Werk überhaupt auf die Bühne zu bringen: Norbert Biermann passte die riesenhafte Originalpartitur der Londoner Uraufführung dem kleineren Orchester an, und zwar mit beachtlichem Geschick. Chor und Kinderchor waren ausnehmend motiviert, wie auch die neun Solisten, allen voran der polnische Bariton Jan Żądło als Winston, die rumänische Sopranistin Theodora Varga als seine Geliebte Julia und der amerikanische Tenor Anthony Webb als Staatssicherheitsmann und Folterknecht O'Brien.

Musikalisch entschlossen

Dirigent Tom Woods meinte es gut mit dem Publikum und wollte die ganze Opulenz von Maazels Klangfarben zum Leuchten bringen – was akustisch allerdings nicht immer optimal war, weder für die Sänger, noch für den vergleichsweise kleinen Zuschauerraum. Etwas weniger grimmige Entschlossenheit zur Überwältigung hätte den Abend noch beklemmender gemacht. Insgesamt eine fulminante Geisterbahnfahrt auf dem Rummelplatz der Wahrheiten. Der Applaus war entsprechend einhellig.

Sendung: "Allegro" am 5. Juni 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (1)

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Sonntag, 04.Juni, 14:27 Uhr

Herbert Gurth

Leider ist ein kleiner Fehler in der Kritik: nach der Uraufführung in London wurde die Oper auch in Mailand (Mai 2008) aufgeführt.

Antwort von BR-KLASSIK:
Das ist korrekt. Es handelte sich allerdings um dieselbe Inszenierung von Robert Lepage, die auch bei der Uraufführung der Oper in London zu sehen war.

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