Franz Schuberts "Winterreise" ist in der spektakulären Orchesterfassung von Hans Zender schon ein Bühnen-Erlebnis - mit Zusatzeffekten wie Windmaschinen. Jetzt kam in Augsburg erstmals eine Ballett-Choreografie von Ricardo Fernando hinzu. Kurz vor dem Corona-Teillockdown fand am 31. Oktober die Uraufführung im Augsburger "martini-Park" statt – für das Publikum allerdings nur als Videolivestream. Und das schmälerte das Erlebnis leider ziemlich.
Bildquelle: Staatstheater Augsburg/Jan Pieter Fuhr
Wenn sich ein roter Vorhang auf einem Bildschirm öffnet und das Ganze kommt aus Augsburg, dann denkt so manch einer als erstes an die legendären Verfilmungen der Augsburger Puppenkiste – mit Jim Knopf, der Katze mit Hut und dem Urmel. Also an feinste Unterhaltung! Und irgendwie hat diese getanzte "Winterreise" auch etwas Puppenkistenhaftes, etwas Fantastisches. Klar ist der Gefühlszustand völlig konträr zu den Kindergeschichten: tief melancholisch! Aber letztlich findet auch diese "Winterreise" in einer Phantasiewelt statt – nämlich im Kopf des von der Geliebten verlassenen jungen Mannes.
Düstere Grautöne und eine mulmige Gefängnisatmosphäre prägen das Bühnenbild. | Bildquelle: Staatstheater Augsburg/Jan Pieter Fuhr Symbolisch für seinen Seelenzustand ist die Bühne in Grautöne getaucht – und zwar von sanftem Mausgrau bis schalem Steingrau, alles dabei. Ein großes weißes Fenster im Hintergrund sorgt zwar für Licht in der Düsternis, aber die vielen schwarzen Sprossen erinnern an ein Gefängnis, vermitteln also Ausweglosigkeit. Auch die Türen und Fenster an der linken und rechten Bühnenseite mit zersplittertem Glaseinsatz lassen nicht gerade ein Gefühl von Gemütlichkeit aufkommen. Und der nackte dunkelgraue Lindenbaum im rechten Bühneneck ist von satter Lebensfreude so weit entfernt wie ein ausgemergelter Straßenköter. Hier lässt Choreograf Ricardo Fernando seine Compagnie auf eine frostige Reise gehen – ohne Winterreifen, ohne Streusalz, dafür mit viel künstlichem Schnee.
In lange dunkelgraue Mäntel sind die Tänzerinnen und Tänzer gehüllt. Mit tiefen eleganten Schritten und harschen Pirouetten beginnt diese "Winterreise". Alle tragen beim ersten Lied des 24-teiligen Zyklus Koffer in der Hand, die sie wie Abstandshalter vor sich her schleppen, die sie über den Kopf schwingen, die als Sitzmöbel und als Tanzpartner dienen.
Die Reise beginnt: Koffer als Zeichen des Aufbruchs? | Bildquelle: Staatstheater Augsburg/Jan Pieter Fuhr Klagend erhebt dazu der Tenor Jaques le Roux seine Stimme, eingemummelt in einen bodenlangen Mantel und Schal, als wäre er aus einem Gemälde von Caspar David Friedrich entwischt. Mit klarer Stimmführung, ohne mitleidsheischendem Jammern singt le Roux die bittersüßen Texte von Wilhelm Müller, in denen die Rede ist von gefrorenen Tränen, von Träumen, der Fremde, dem Liebchen, den Krähen, dem Leiermann. Die Augsburger Philharmoniker unter Leitung von Domonkos Héja betten den Sänger mal sanft wie auf Pulverschnee, dann wieder surren die Windmaschinen im Hurrikan-Modus aus dem Orchestergraben, so dass man fürchtet, alle werden gleich vom Getöse umgepustet. Hans Zenders Komposition verlangt ein sensibles Zusammenwirken von Orchester und Stimme, was hier wirklich gelingt.
Und auch die Idee des Choreografen, viele der Metaphern in den Gedichten als Personen auftreten zu lassen, geht auf. Wenn etwa Tänzer als Krähen mit scharfen Schnäbeln "hacken", wenn sie in weiten rabenschwarzen Gewändern und ausholenden, geschmeidigen Armbewegungen über die Bühne schwirren, als befänden sie sich im Gleitflug.
Die Tänzer schlüpfen in verschiedene Rollen - hier in die der Hunde. | Bildquelle: Staatstheater Augsburg/Jan Pieter Fuhr In der Episode "Im Dorfe" werden sechs Tänzer zu Hunden mit Schlappohren, die sie schleudern, weil sie vom Schnee pudelnass geworden sind. Choreograf Fernando liebt solche Details, lässt sich inspirieren von der Natur und damit eben auch davon, wie akrobatisch sich Hunde kratzen, wie preschend sie mit dem Schwanz wedeln und wie elegant sich Hunde auf allen Vieren strecken. Solche feinen Beobachtungen füttern diese Mischung aus neoklassischem und zeitgenössischem Stil mit überraschenden, witzigen und erfreuenden Details.
Im buchstäblichen Sinne auf die Spitze treibt der Choreograf seine Fantasy-Winterreise in dem Lied "stürmischer Morgen" – wenn nämlich die Ballerina als personifizierter Sturm dynamisch auf Spitzenschuhen trippelt, sich dreht, die Beine in die Höhe wirft. Mit dem Liedtext im Ohr mutet jeder ihrer Schritte auf den spitzen Schuhen an wie ein Stich ins Herz des Helden. Ein schaurig-schönes Bild!
Die "Winterreise" in Körpersprache übersetzt - das mag funktionieren, aber nur live auf der Bühne. | Bildquelle: Staatstheater Augsburg/Jan Pieter Fuhr Und doch fehlt dieser Winterreise ganz klar das Live-Erlebnis. Tanz, und damit Ballett, lebt vom Fluss der Bewegung und durch die Abfolge von Schritten, die sich in einer Choreografie entwickeln. Wenn jedoch die Kameraeinstellung andauernd wechselt, vom Sänger in Nahaufnahme zu zappelnden Füßen, dann zur gesamten Bühne und wieder zurück zu wirbelnden Händen, wird dieser Fluss immer wieder unterbrochen. So bleiben zwar viele Bilder der "Winterreise" zurück, wie ein Fotoalbum, aber das Live-Erlebnis der Reise kann diese Sammlung an Schnappschüssen sicher nicht ersetzen. Aber: Vielleicht wird ja noch was aus der "Winterreise" als Ballett im Theater Augsburg – bevor der Winter tatsächlich anbricht. Warm anziehen muss man sich jedenfalls nicht.
Alle Infos sowie die Besetzung der Premiere am 31. Oktober 2020 finden Sie auf staatstheater-augsburg.de.
Sendung: "Allegro" am 2. November 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Montag, 02.November, 17:49 Uhr
R. Schultz
Staatstheater Augsburg - Live-Stream Winterreise
Wenn die Kritikerin im Lindenbaum die Lebensfreude vermisst, so hat sie das Gedicht nicht verstanden. Im Gedicht ringt der Wanderer mit Suizidgedanken. Ich verweise auf eine Text-Analyse des österreichischen Psychiaters und Suizidforschers Erwin Ringel. Diese Analyse ist zusammen mit der Originalmusik auf CD dokumentiert. Im Übrigen fand ich die Übertragung unter Verwendung eines großen Bildschirms und einer angeschlossenen HiFi-Anlage außerordentlich beeindruckend.