Der Mythos der selbstlosen Sünderin: Vor diesem Hintergrund ist die "Kameliendame" von Alexandre Dumas zu sehen, und ebenso die Violetta im Opern-Evergreen "La Traviata" von Giuseppe Verdi. Doch was interessiert einen Regisseur wie Simon Stone an dieser populären Bühnenfigur? Seine Inszenierung machte schon vor eineinhalb Jahren in Paris Schlagzeilen. Inzwischen ist die leicht modifizierte Regiearbeit an die Wiener Staatsoper gewandert: in veränderter Besetzung. Nur die Südafrikanerin Pretty Yende blieb Violetta. Am 7. März 2021 wurde live gestreamt.
Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Paris als Stadt des schönen Scheins, Metropole der glitzernden Fassaden. In Smoking und Cocktailkleid tanzt die Hautevolee um eine Champagnerglas-Pyramide. Violetta ist Edelprostituierte, Popstar, Werbe-Ikone mit eigener Parfum-Linie. Sie ist Influencerin, lebt in einer Instagram-Welt, hat Millionen Follower auf den Social-Media-Kanälen. Regisseur Simon Stone wirft Text- und Bildnachrichten im Übermaß an die Wand. Dazu bühnenhohe, hyperrealistische, zum Teil experimentelle Videosequenzen. Inzwischen beherrschen sie alle möglichen Opernproduktionen, aber selten so chic.
Auch auf dem Land kann Violetta Valéry ihren hektisch-oberflächlichen Lebensstil nicht abschalten. | Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Die Geschichte Violettas ist auch diesmal die einer Frau, die im Geschwindigkeitsrausch lebt – so hat Verdi das schon komponiert. Hier geht atemlos verfliegende Lebenszeit zu Ende: für eine Krebskranke. Violetta will die Wärme einer festen Beziehung. Wo Privates und Öffentliches nicht mehr ineinander fließen. Aber im Hirn entkommt sie der städtischen Kälte nicht mehr, kann auf dem Land einfach nicht abschalten. Weil ihr der oberflächlich-hektische Lebensstil längst tief in den Poren sitzt.
Um das klar zu machen, arbeitet Simon Stone im ersten Bild des 2. Akts – der eigentlich kontrastierenden Szene des Stücks – optisch mit derselben sterilen Glätte wie zuvor und danach. Der Traktor wirkt viel zu groß, die Kapelle viel zu klein. Beide wirken als Fremdkörper vor solchem Hochglanz-Ambiente. Die Message des Regisseurs lautet: Für Violetta ist alles zu spät! Sie scheitert an ihrer Unfähigkeit, die Macht der Gewohnheit zu überlisten. Daran, dass sie aus dem Hang und Zwang zur eigenen Vernetzung und Vermarktung nicht herausfindet.
Dazu kommt, wie in jeder "Traviata"-Inszenierung, der Standesdünkel, die sogenannte Familienehre des Schwiegervaters in spe: Was hat eine Frau aus unteren Schichten im Privatleben einflussreicher Kreise verloren? Diesmal könnte man meinen: Das Paar Violetta-Alfredo ähnelt sogar dem Paar Meghan-Harry.
Pretty Yende verkörpert Violetta: Edelprostituierte, Popstar und Werbe-Ikone mit eigener Parfum-Linie. | Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Der andere Mann im Leitungsteam der Produktion: Dirigent Giacomo Sagripanti. Er weiß um die großen Momente, wählt Temposchwankungen, wo sie sinnvoll sind. Die traurigste unter den Melodien, die Verdi für seine traurigste Oper einfielen, versieht Sagripanti mit noblen Ausrufezeichen. Denn die dezent schluchzenden Geigen des todestrunkenen letzten Aktes sind das akustische Pendant der Verlorenheit Violettas. Und wer könnte so etwas edler klingen lassen als die Wiener Philharmoniker?
Top-Star Juan Diego Flórez zehrt als Alfredo von seiner frisch erworbenen Fähigkeit zu stimmlicher Attacke: Erst während der letzten Jahre driftet er vom "tenore di grazia" in ein benachbartes Fach: "lirico-spinto". Und wo sein Instrument die altbekannte Leichtgängigkeit liefern muss – nach wie vor kein Problem für Flórez! Demgegenüber muss der alte Germont eigentlich immer nur Legato singen, Bögen spannen: Das kann der russische Bariton Igor Golovatenko. Die Sensibilität des Tenor-Kollegen lässt er dabei nicht walten. Aber das passt zum Charakter des Vaters.
Juan Diego Floréz und Pretty Yende als Liebespaar Alfredo und Violetta. | Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn Und Pretty Yende in der Titelrolle? Bei den Koloraturen brilliert sie, spürt den Linien und Girlanden der Musik konzentriert nach. Das zeitweilige Flackern ihrer Stimme ist ein Hinweis auf die Seelennöte der Figur. Spätestens im letzten Akt erreicht Pretty Yende eine Intensität des Ausdrucks, die an Leontyne Price zurückdenken lässt: eine Legende unter den Verdi-Sängerinnen der 1960er Jahre. Der Klangfarbe nach ein Vorbild für die Südafrikanerin? Übrigens bewegt sich Pretty Yende auf der Bühne mit seltener Natürlichkeit. Ihre Violetta wirkt zuerst trotzig auftrumpfend, bald hinfällig, dann hilflos. Bis sie im Krankenhaus am Tropf hängt. Am Ende leidet mit dieser Frau jede und jeder.
Sendung: "Allegro" am 8. März 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (2)
Samstag, 13.März, 14:17 Uhr
Dr. Diemut Fuchs
Weiterer Kommentar
Meinem Vorkommentator Herrn Röser kann ich mich nur vollinhaltlich anschließen. Mir bleibt nur noch anzumerken, daß das vom Rezensenten erwähnte "zeitweilige Flackern ihrer (Pretty Yende) Stimme" keinerlei "Hinweis auf die Seelennöte der Figur" sind, sondern vielmehr auf erhebliche stimmliche und technische Defizite der Sängerin. Inwieweit die ebenfalls ständig "flackernde" Intonation und Unschärfe der Koloraturen nur Folge dieser technischen Unfähigkeit oder aber Ausdruck mangelnder Musikalität sind will ich hier nicht näher beurteilen. Mein Sohn (mit klassischer Komponistenausbildung und absolutem Gehör) kam aus dem Nebenzimmer um mich zu fragen, wer denn hier so schrecklich falsch singt....
Dienstag, 09.März, 19:41 Uhr
Albert Röser
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Eine scheußliche Inszenierung. Ich sah sie im Livestream. Die brutale und oft beliebige Versetzung der Handlung in eine andere Epoche wie heute fast durchgängig üblich ist nur störend und zerstört jede zur Musik gehörige Atmosphäre. Als ich den Traktor auf der Bühne und Florez mit der Schubkarre sah, hatte ich die Freude an der Musik verloren. Nur eklig die Transvestiten- und Schwulenparty auf der Bühne Die Rezension beschönigt in jedem Satz. Pretty Yende wirkte nur verkrampft und hatte keine Ausstrahlung. Wenn ich im Herbst nach der Abstinenz durch Corona wieder in der Bayer. Staatsoper bin wie seit 1964, hoffe ich was Authentischeres zu sehen.
Albert Röser