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Weltfrauentag – Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla "Eine Veränderung findet bereits statt"

Mirga Gražinytè-Tyla gehört zu den erfolgreichen Dirigentinnen unserer Zeit. Als Frau ist sie in diesem Beruf eine unter wenigen, denn noch immer sind Frauen am Orchesterpult unterrepräsentiert. Im BR-KLASSIK-Interview spricht Mirga Gražinytè-Tyla über abfällige Kommentare von männlichen Kollegen, den Zusammenhalt der Dirigentinnen untereinander und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Bildquelle: Frans Jansen

"Eine Veränderung findet bereits statt"

Im Gespräch mit Mirga Gražinytè-Tyla

BR-KLASSIK: Frau Gražinytè-Tyla, wie gehen Sie damit um, dass meistens mit Erstaunen darauf reagiert wird, wenn Sie sagen: Ich bin Dirigentin?

Mirga Gražinytè-Tyla: Man kann über vieles auf der Welt staunen. Jeder hat das Recht dazu. Bei einer ähnlichen Frage muss ich immer wieder an eine alte Dame vom Land denken, die ich als Kind oft in den Sommerferien erlebt habe. Sie meinte, die Dirigenten fuchteln immer so herum, um Fliegen wegzuscheuchen. Auch mir kann es passieren, dass ich eher Fliegen wegscheuche. Das ist natürlich das eine Extrem, wenn man am Pult steht. Das andere Extrem ist, dass man tatsächlich Wunder bewirkt. Und dazwischen gibt es die große Bandbreite.

Radio-Tipp

Fridemann Leipold im Gespräch mit der Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla – zu hören am Montag, 8. März 2021, um 20:05 Uhr auf BR-KLASSIK und im Anschluss auch on demand auf dieser Seite.

Am Pult kann man wirklich Wunder bewirken.
Mirga Gražinytè-Tyla

BR-KLASSIK: Da fällt mir Bernhard Haitink ein, der mal gesagt hat: Dirigieren bedeutet Luft zerteilen ...

Mirga Gražinytè-Tyla: Bernhard Haitink hat auch bei einem seiner Kurse einem jungen Dirigenten mal einen wertvollen Tipp gegeben. Der wollte eine Stelle nämlich noch einmal wiederholen und hat angefangen, den Musikern seine Wünsche verbal mitzuteilen: Hier bitte leiser, da eine Stimme mehr hervorheben und da so und so phrasieren... Und Haitink meinte: "Bitte sag es nicht, sondern denkt es nur – ganz intensiv. Und jetzt mach die Stelle noch einmal." Da passieren tatsächlich unglaubliche Wunder. Ich habe das auch erlebt – erst letzte Woche in Stockholm. Ich habe eine Stelle aus der Sinfonietta von Weinberg dirigiert. Und eigentlich wollte ich jemanden auf die Intonation hinweisen, habe das aber zeitlich nicht mehr geschafft. Als ich die Stelle dann nochmal dirigiert habe, war intonationsmäßig alles in Ordnung. Das kann also tatsächlich eine mysteriöse Ebene erreichen.

Kurt Masur – Seitenhiebe gegen junge Dirigentinnen?

BR-KLASSIK: Wer hat Sie in ihrer künstlerischen Laufbahn am meisten geprägt?

Mirga Gražinytè-Tyla: Sehr viele. Es wäre schwer, alle aufzuzählen. Es fing schon mit meinen Eltern an. Sie sind auch Musiker und haben mich schon als kleines Mädchen zu ihren Chorreisen, Proben und Konzerten mitgenommen. Wichtig waren dann auch die Freundschaften zu Gidon Kremer und Simon Rattle. Alles unglaublich inspirierende, bereichernde Geschenke. Mit Herbert Blomstedt durfte ich auch einige Kurse machen – wie auch mit Kurt Masur. Die beiden gehören noch einer ganz anderen Generation an und haben mir sehr viel Wichtiges geschenkt.

BR-KLASSIK: Dirigentinnen werden aber nicht überall mit offenen Armen empfangen. Sie haben gerade Kurt Masur erwähnt. Der war berüchtigt für seinen eher rüden Umgang mit Dirigierstudentinnen. Davon hat Oksana Lyniv zum Beispiel gesprochen. Können Sie das bestätigen?

Mirga Gražinytè-Tyla, Dirigentin | Bildquelle: Ben Ealovega Als Dirigentin braucht Mirga Gražinytè-Tyla eine klare Vorstellung davon, was sie will. | Bildquelle: Ben Ealovega Mirga Gražinytè-Tyla: Ich hatte mal eine Diskussion mit Kurt Masur über das Tempo des zweiten Satzes von Beethovens Neunter Symphonie, das Scherzo. Das war lustig. Die fand nämlich vor dem Orchester statt. Ich war brennend davon überzeugt, dass man ein eher rasches Tempo nehmen sollte, nämlich die Zahl, die Beethoven geschrieben hat. Und Kurt Masur meinte, ich sei kalt wie ein Schneewittchen und nehme einfach ein falsches Tempo. Aber ich fand das ganze irgendwie herzig. Man hört immer wieder solche Geschichten von Kurt Masur – aber das traf nicht nur Frauen, würde ich sagen. Ich glaube, es hatte eher mit den Überzeugungen und Einstellungen der älteren Generation zu tun. Ähnliches kenne ich von meinem Urgroßvater, der ein sehr strenger Posaunist war. Es ist also vielleicht auch eine Generationenfrage.

Kurt Masur meinte, ich sei kalt wie ein Schneewittchen und nehme das falsche Tempo.
Mirga Gražinytè-Tyla

BR-KLASSIK: Da sind wir auch schon bei der #MeToo-Debatte. Was hat die Ihrer Meinung nach bewirkt?

Mirga Gražinytè-Tyla: Ich glaube, es geht in eine gute Richtung, wenn man darüber sinniert und reflektiert: Jeder und jede darf seinen freien Willen haben. Das ist einfach ein wichtiges Thema. Zumal wir ja die liberalen Werte in unserer Gesellschaft auch so preisen. Was und wieviel durch diese Bewegung wirklich ans Licht gekommen ist? Das muss, glaube ich, jede und jeder Beteiligte für sich selbst beantworten. Das gut auseinanderzuhalten, ist auf offizieller und öffentlicher Basis wahrscheinlich eine ziemliche Herausforderung.

BR-KLASSIK: Mussten Sie selbst Erfahrungen mit sexueller Belästigung machen?

Mirga Gražinytè-Tyla: Ich schätze mich glücklich, in dieser Hinsicht bislang keine Erfahrungen gemacht zu haben – zumindest keine eindeutigen. Aber bestimmte Grobheiten existieren natürlich, nach wie vor. Aber die kommen bei beiden Geschlechtern vor. Wir müssen einfach auf den edlen und weisen Geist vertrauen, auch wenn der sich vielleicht zum Teil etwas langsam entwickelt. Wir müssen uns da einfach bemühen.

Dirigentinnen – eine Gruppe Gleichgesinnter oder Einzelkämpferinnen?

BR-KLASSIK: Verfolgen Sie eigentlich, was Ihre Kolleginnen so treiben? Ich denke jetzt mal an Joana Mallwitz, Oksana Lyniv, Karina Canellakis oder Barbara Hannigan... Tauscht man sich aus, solidarisiert man sich – oder ist jede Dirigentin eine Einzelkämpferin?

Mirga Gražinytè-Tyla: Ein Austausch ist immer etwas unglaublich Wertvolles. Wenn man sich nicht austauscht, dann weniger, weil man eine Einzelkämpferin ist, sondern mehr, weil man einfach nur begrenzt dazu kommt. Ich bin sehr froh, sowohl Joana als auch Oksana und Karina persönlich zu kennen. Mit Joana haben wir 2011 am Heidelberger Theater bei der Produktion von "Aida" damals zusammengearbeitet. Es wäre sehr schön, Joana mal wieder zu sehen und mit ihr zu sprechen. Zuletzt war das 2016 in Erfurt der Fall, als ich damals dort bei ihrem Orchester gastieren durfte.

Vereinbarkeit von Beruf und Familie

BR-KLASSIK: Sie sind normalerweise viel unterwegs. Wo ist eigentlich Ihr Lebensmittelpunkt?

Mirga Gražinytè-Tyla: Ich wünsche mir, dass ich immer wieder im Herzen lande.

BR-KLASSIK: Sie haben zwei Kinder. Wie gut geht das mit einer internationalen Karriere als Dirigentin zusammen?

Mirga Gražinytè-Tyla: Da sind wir noch auf der Suche... An manchen Tagen denkt man: ja, es klappt gut! Und an anderen: es geht kaum. Aber irgendwie geht es immer weiter.

Die Veränderung findet bereits statt – es ist nur eine Frage der Zeit und unserer Offenheit.
Mirga Gražinytè-Tyla

BR-KLASSIK: Seit 2016 sind Sie Chefdirigentin beim City of Birmingham Symphony Orchestra. Was müsste sich denn Ihrer Meinung nach ändern, damit Künstlerinnen leichter in solche Leitungspositionen kommen, wie Sie eine haben?

Mirga Gražinytè-Tyla: Ich glaube, die Veränderung findet sowieso bereits statt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit und unserer hoffentlich weiter sich erhöhenden Offenheit.

BR-KLASSIK: Wie verbringen Sie den Internationalen Frauentag am 8. März?

Mirga Gražinytè-Tyla: Mit Proben bei meinem geliebten City of Birmingham Symphony Orchestra.

Debüt beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Mirga Gražinytė-Tyla  | Bildquelle: Lothar Tanzyna Mirga Gražinytè-Tyla gab 2013 ihr Debüt beim BR-Chor. Jetzt dirigiert sie erstmals beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. | Bildquelle: Lothar Tanzyna BR-KLASSIK: Am 26. März geben Sie Ihr Debüt beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. BR-KLASSIK überträgt live im Radio und auch im Videostream. Wie gehen Sie eigentlich vor, wenn Sie zum ersten Mal am Pult eines für Sie neuen Orchesters stehen?

Mirga Gražinytè-Tyla: Ich versuche einfach, die Augen und Ohren aufzumachen – und das Herz vielleicht sogar noch zuerst. Ich schaue, wen ich da treffen darf. Ich freue mich darauf. Es ist einfach aufregend. Ich bringe zwar meine Erfahrungen, Ideen und Konzepte mit. Aber ich möchte auch etwas kennenlernen, jemanden treffen und dann offen dafür sein, was aus der Begegnung entsteht.

Ich bringe zwar meine Ideen mit, möchte aber auch offen dafür sein, was aus einer Begegnung entsteht.
Mirga Gražinytè-Tyla

BR-KLASSIK: Sie haben Ihre Karriere als Chordirigentin begonnen. 2013 haben Sie Ihr Debüt beim Chor des Bayerischen Rundfunks gegeben mit einem Weihnachtskonzert. Wie kam es eigentlich, dass Sie dann von der Chordirigentin zur Orchesterdirigenten wurden?

Mirga Gražinytè-Tyla: Ich wollte ausprobieren, ob ich mich im instrumentalen Fach genauso zu Hause fühle wie im gesungenen. Und ich bin noch immer dran – am Experimentieren.

Sendung: "Allegro" am 8. März 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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