Benjamin Brittens düsteres Nordsee-Drama als fesselndes Passionsspiel: Hier wird der Fischer zum menschenscheuen, barfüßigen und langhaarigen Einsiedler, der in einer unheimlichen Höhle haust und härene Gewänder trägt. Das Publikum ist geblendet.
Bildquelle: Jan-Pieter Fuhr
Der Mann ist ein Rätsel, und gerade das macht ihn natürlich so faszinierend: Wer dieser Peter Grimes eigentlich ist, weiß niemand zu sagen. Sein Geld verdient er als Fischer, klar, und ein Außenseiter ist er auch. Aber warum eigentlich? Will er nur seine Ruhe haben, ist er ein Menschenfeind, ein Homosexueller, womöglich sogar ein Kinderschinder und Kinderschänder oder von Wahnvorstellungen gepeinigt?
Das alles bleibt bei Benjamin Britten in der Schwebe. Und deshalb haben Regisseure viel Freiraum, diesen Peter Grimes nach ihrem Verständnis zu charakterisieren. Dirk Schmeding zeigt ihn am Staatstheater Augsburg als Schmerzensmann, fast wie im Passionsspiel.
Bildquelle: Jan-Pieter Fuhr Ein Eremit in der Wasserwüste sozusagen, der in einer unwirtlichen Höhle an einem felsigen Ufer haust. Zwar trägt er lange Haare und härene Gewänder, reckt auch mal die Arme zum Himmel, aber er predigt und betet nicht, er schimpft nur. Soll bei Eremiten ja vorkommen. Und die Dorfbewohner, die sind halb abgestoßen und halb angezogen von diesem Sonderling, den sie nicht einschätzen können. Das alles funktioniert in dieser Inszenierung über drei Stunden hinweg bestens, es fesselt sogar, was im wirklich nicht idealen Ausweichquartier des Augsburger Staatstheaters im Textilviertel durch die baulichen Verhältnisse leider selten der Fall ist.
Die Einheitsbühne ist optisch weit weg von den Zuschauern, das Orchester davor nimmt viel Raum ein. Doch Dirk Schmeding versteht es, ungeachtet dieser Probleme mächtig Effekt zu machen. Seine Ausstatterin Martina Segna hatte eine Wasserlandschaft entworfen, eine seichte Pfütze, wie sie von Flamingo-Gehegen im Zoo bekannt ist.
Bildquelle: Jan-Pieter Fuhr Rosarot ist hier allerdings nichts: Farben fehlen vollständig, die englische Nordseeküste erscheint grau in grau in schwarz und macht alle nass. Die Lebensfreude ankerte hier zum letzten Mal in einem sehr fernen Jahrhundert. Der Chor nimmt hinter diesem tristen Wassertretbecken Platz und schaut gespannt in den Zuschauerraum. Später wird diese Ordnung völlig durcheinander gebracht: Die Handlung verlagert sich zwischen die Stuhlreihen im Saal und Peter Grimes beendet seine letzte Reise im Rücken des Publikums, das zwischendurch so geblendet ist, als ob es wirklich das berühmte Licht im Tunnel zum Jenseits wahrnimmt.
Drei Sänger der Titelpartie musste das Staatstheater Augsburg aufbieten, um diese Premiere zu retten. Haustenor Jacques le Roux war während der Proben erkrankt. Einspringer Richard Furman schlitterte nach zwei Wochen Endproben ebenfalls in eine stimmliche Indisposition, so dass schließlich Peter Marsh von der Oper Frankfurt vom Graben aus sang. Das allerdings machte er meisterhaft und mit allergrößter Emphase. Und weil Richard Furman als barfüßiger Eremit schauspielerisch alles gab, wurde es ein ungewöhnlich intensives Gesamterlebnis.
Bildquelle: Jan-Pieter Fuhr Dazu trug natürlich Dirigent Domonkos Héja nicht unwesentlich bei. Der in dieser Oper außergewöhnlich viel gefragte Chor allerdings musste mit der ungewohnten Bühnensituation wohl erst etwas warm werden, bevor er zur Geschlossenheit fand. Erhebliche Wackler hier und da waren bei dieser fast schon extremen Bewegungsregie aber mehr als verständlich. Zu den durchweg überzeugenden Solisten gehörten Wiard Witholt als Kapitän Balstrode und Sally du Randt als verwitwete Lehrerin Ellen Orford.
Doch auch die kleineren Rollen waren so augenfällig, dass sie sämtlich in Erinnerung blieben: Die drogensüchtige Rentnerin im Margaret-Thatcher-Look, die kettenrauchende örtliche Wirtin und ihre sehr leicht bekleideten Nichten, die mit Turmfrisur auf Kundenfang gingen. Der völlig überdrehte Pfarrer, der geschäftstüchtige Apotheker, der frömmelnde Fundamentalist: Ein Kleinstadtporträt, das seines gleichen sucht. Ein beklemmender Opernabend über Menschen in der emotionalen Ödnis - und einen Mann, der sich nicht mehr zu helfen weiß.
Sendung: "Allegro" am 30. Mai 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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