Kommt selten vor, dass Opern-Uraufführungen vom Publikum mit ehrlicher Begeisterung aufgenommen werden. Komponist Anno Schreier und Textdichter Georg Holzer gelang ein unterhaltsamer Abend über den englischen Mathematiker und Kryptologie-Star Alan Turing. Allerdings war es mehr Briten-Comic im Retro-Stil als Psycho-Studie.
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Klingt ja doch etwas altmodisch, wenn jemand von "poppiger" Musik spricht, so nach den sechziger oder siebziger Jahren. Und genauso klingt sie auch: die Oper, die Komponist Anno Schreier über den britischen Großdenker und Computerpionier Alan Turing schrieb: Könnte auch der Soundtrack zu einer betagteren TV-Serie sein, "Mit Hirn, Charme und Melone". Da haben die Bläser und vor allem das Schlagzeug viel zu tun, wie es in den großen Bigband-Zeiten üblich war. Hört sich an, als ob die "Raumpatrouille Orion" vorbeirast oder in den "Straßen von San Francisco" mal wieder was los ist, und dieser Retro-Touch ist von Anno Schreier durchaus gewollt: Er orientiert sich nach eigener Aussage an der rhythmisch bewegten Minimal Music, die in den Sechzigern entstand und am Elektro-Pop der Achtziger.
Bildquelle: © Ludwig Olah Unterhaltsam ist das alles ohne Zweifel, und am Staatstheater Nürnberg auch ungemein erfolgreich. Kommt selten vor, dass das Publikum bei einer Uraufführung heutzutage ehrlich begeistert ist und nicht nur höflich klatscht. Die Frage ist, wie satirisch diese Musik gemeint ist und ob wirklich der Anspruch eingelöst wurde, dem Innenleben, den Seelennöten des Alan Turing gerecht zu werden. Er war schwul, er war ausgegrenzt, er war ein Sonderling, der sich für eine isolierte Insel im Meer hielt, wohlgemerkt eine Insel ohne Anlegestelle, unerreichbar für den Rest der Menschheit. Ein Autist, der sich für Zahlen begeisterte, für Algorithmen und Chiffren und der dabei so genial war, dass es ihm gelang, den Code der deutschen Marine im Zweiten Weltkrieg zu knacken. Das dankte ihm England mit einem Orden und einem Strafprozess wegen unsittlichen Verhaltens.
Das alles erzählt diese Oper in gut zwei rasanten Stunden, doch Textdichter Georg Holzer und Komponist Anno Schreier halten sich nicht länger mit Turings Psychoanalyse auf, sondern hetzen recht zügig, ja "comichaft", wie es im Programmheft heißt, durch seine Lebensstationen – im Rückblick, wie es heute üblich ist. Das ist nie langweilig, macht oft Spaß, etwa wenn sich auf das Allerwelts-Wort "normal" ausgerechnet "schal" und "fatal" reimen. Doch Turing war, wie gesagt, genial und hätte durchaus eine musikalische Studie über sein utopisches Denken vertragen, nicht nur ein beschwingtes Konversationsstück über das schrullige England der fünfziger Jahre.
Bildquelle: Ludwig Olah / Staatstheater Nürnberg Insofern führte auch das Bühnenbild von Mathis Neidhardt etwas in die Irre: Die Silhouette von Turings Kopf rahmte das Geschehen ein und zwar vervielfacht. Das Publikum sollte sich optisch also direkt hinein begeben in seinen Synapsen-Dschungel. Regisseur Jens-Daniel Herzog freilich bekannte im Programmheft, dass Durchschnittszuschauer gar nicht in der Lage seien, den Gedankengängen dieses fulminanten Mathematikers zu folgen, allenfalls sei es möglich zu zeigen, wozu sie geführt haben. Also doch wieder ein Blick von außen auf das Genie, ein emotional berührender, wenn auch etwas flüchtiger Blick. Klischees bleiben dabei nicht aus: Graue Männer mit Bowler-Hats, hochnäsige Richter mit Perücken, tolpatschige Streifenpolizisten und ein Zigarre paffender Churchill – England wie bei Miss Marple. Das ist jederzeit deutlich, verstehbar, teils komisch, aber auch arg harmlos, angesichts des Dramas von Alan Turing. Herzog ließ sich obendrein einen Knalleffekt einfallen, der gegen Ende wirklich was hermachte, aber der wird natürlich nicht verraten.
Bildquelle: Bayerischer Rundfunk 2022 Martin Platz in der Titelrolle gelingt eine einfühlsame und bewegende Charakterstudie. Er ist ein Kindskopf, wenn es um sein sexuelles Begehren geht, erstaunlich naiv in seinen Beziehungen zu Männern, eigentlich auch naiv in seinem Verhältnis zu Zahlen, aber bekanntlich ist gerade das Einfache in den Naturwissenschaften das Schwerste. Auch Emily Newton als leidgeprüfte Lebensgefährtin Joan ist bemerkenswert aufrichtig und glaubwürdig, vollkommen unhysterisch. Auch alle anderen Solisten und der enorm geforderte, äußerst bewegliche Chor machten ihre Sache außerordentlich gut. Eine Uraufführung mit Unterhaltungsqualität, das ist selten, das ist eine Herausforderung: Das Staatstheater Nürnberg hat sie gemeistert.
Sendung: "Allegro" am 28. November 2022, ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (4)
Donnerstag, 01.Dezember, 11:00 Uhr
Armin Ulbrich
Ansprechende Oper
Gelungen ist die Musik, die endlich neue Wege anstrebt und nicht nur für Soundgenies gedacht ist. Hervorragend! Auch die Inszenierung ist dem Werk treu geblieben. Endlich eine Aufführung, die wir Seniorinnen und Senioren empfehlen können. Gesanglich hervorragend, besonders der Chor, aber auch alle Solisten Platz, Raptis, Newton, Karnolsky. Der Zuschauer entschied schon immer über die Leistung einer Aufführung und in der Vergangenheit Joachim Kaiser von der SZ.
Mittwoch, 30.November, 09:29 Uhr
Knut mit Hut
Das Schielen auf den Publikumserfolg zahlt sich halt nicht aus…
Montag, 28.November, 13:39 Uhr
Herbert Gurth
So eine Enttäuschung!
Leider kann ich die Einschätzung von Herrn Jungblut nicht teilen: die Oper ist weder unterhaltsam noch englischer Humor! Sie ist einfach nur fad!
Sonntag, 27.November, 12:40 Uhr
Thomas Langner
Turing
Als Informatiker hat Alan Turing für mich einen enormen Stellenwert und dementsprechend gespannt habe ich gestern die Übertragung im Radio verfolgt - bis zur Pause. Dann enttäuscht abgeschaltet. Das war mutlos, da wäre musikalisch wie inhaltlich so viel mehr drin gewesen. Vielleicht sollte man den Durchschnittszuschauer nicht zu sehr unterschätzen.