Menschen mit Demenz leben oft in ihrer eigenen Welt. Musik kann helfen, eine Brücke zu bauen und die eigene Persönlichkeit wiederzufinden. Anke Feierabend hat sich darauf spezialisiert, demenzerkrankte Menschen auf der Geige zu unterrichten. Auch wenn sonst nichts mehr geht, das klappt - ist sie überzeugt.
Bildquelle: Anke Feierabend, Universität Vechta
Lichtblick im Meer des Vergessens
Geigenunterricht mit demenzkranken Menschen
Suchend tasten ihre Finger über das Griffbrett - erst zögerlich, dann immer schneller. Mit der anderen Hand streicht Sigrid Schmidt den Bogen. Konzentriert zieht die 79-Jährige die Augenbrauen zusammen. Sie tut etwas, woran kaum jemand geglaubt hat: Sie spielt Geige. Wieder. Nach Jahrzehnten.
Anke Feierabend unterrichtet die an Alzheimer erkrankte Sigrid Schmidt (Name geändert) auf der Geige. | Bildquelle: Anke Feierabend, Universität Vechta "Das war super!" Strahlend legt Anke Feierabend den Arm um ihre Schülerin: "Sie können ja noch so viel von damals." Sigrid Schmidt lächelt schüchtern. Sie ist es nicht gewohnt, gelobt zu werden. Dass sie immer weniger kann, merkt sie hingegen schon. Sigrid Schmidt leidet unter Alzheimer. Sie befindet sich im mittleren Stadium. Mit Senioren wie ihr arbeitet Anke Feierabend sehr oft. Eine Herausforderung. Aber eine, die sie reizt. "Diese Menschen haben eigentlich nichts mehr, was ihnen Freude schenkt und das Gefühl gibt, noch etwas zu können", erklärt sie. Kein Wunder. "Ihr gesamter Alltag ist vom Abbau, Vergessen und Verlieren geprägt." Aber: Wer früher mal Geige gelernt hat, kann das auch dann noch - davon ist Anke Feierabend überzeugt. Selbst dann, wenn andere Fähigkeiten längst verloren gegangen sind.
Die Geige gibt ihnen das Gefühl: Mensch, ich kann ja noch was.
Anke Feierabend baut auf das Körpergedächtnis. Die Bewegungen, die man beim Geigenspielen macht, sind sehr komplex. Aber "die vergisst der Körper nicht", sagt Feierabend. Sie spielt ihrer Schülerin Melodien vor, die Sigrid Schmidt aus ihrer Kindheit kennt. Dann spielen sie sie gemeinsam. Immer wieder muss die 79-Jährige die Töne auf dem Griffbrett suchen. "Nochmal", ermutigt Anke Feierabend: "Sie haben das im Körper. Ihre Finger finden das." Ungläubig lacht Sigrid Schmidt. Doch nach und nach trifft sie alle Töne.
Sigrid Schmidt wirkt beim Geigenunterricht glücklich. | Bildquelle: Anke Feierabend, Universität Vechta Heilen kann Musik eine Demenz nicht. Aber sie kann die Menschen im Innersten berühren und Brücken herstellen. "Musik wird sehr stark im emotionalen Gedächtnis abgespeichert", erklärt Eckart Altenmüller, Professor für Musikphysiologie und Musikermedizin. "Das findet vor allem in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter statt." Diese emotionalen Gedächtnisse seien extrem stabil. Auch wenn man den Namen des Komponisten oder den Titel des Stücks längst vergessen hat, die Musik ruft Erinnerungen an eine bestimmte Lebensphase wach. "Das kann gerade bei Menschen mit einer fortgeschrittenen Alzheimer-Demenz dazu führen, dass sie wieder für einen bestimmten Moment eine Art von Persönlichkeit, Identifikation und Ankerpunkt für ihr Leben finden", so Altenmüller.
Es hat sie im Alltag zugänglicher gemacht.
Anke Feierabend studiert bei einem neuen Schüler immer erst dessen "musikalische Biografie". Für den Unterricht sucht sie nur Stücke aus, die der- oder diejenige von früher kennt. "Ich kann auf die musikalischen Erinnerungen der Schüler zurückgreifen. Und so kann ich schlummernde Schätze aktivieren und wieder zum Leben erwecken." Entwickelt hat Anke Feierabend ihre Methode vor vielen Jahren. Ihre erste Schülerin Marita war passionierte Hobbygeigerin. Sie ist früh an Alzheimer erkrankt. Sie war 54 Jahre alt, als Anke Feierabend anfing, mit ihr zu arbeiten. "Der Geigenunterricht hat natürlich nicht grundsätzlich das Fortschreiten der Krankheit aufgehalten", erzählt ihr Ehemann. "Aber es hat sie im Alltag zugänglicher gemacht." Der Geigenunterricht sei seiner Frau immer wichtig gewesen - auch, wenn sie ihn über die Woche wieder vergessen hat. "Das Erlebnis, dem Instrument Töne zu entlocken, das hat sie einfach innerlich erfreut. Das hat man im Alltag gemerkt."
Anke Feierabend hat beobachtet, dass einige Schüler während des Geigenunterrichts - zumindest zeitweise - kognitiv bessere Leistungen zeigen als sonst. "Es kann sein, dass der Schüler in der Unterrichtsstunde wieder relativ adäquat redet. Obwohl er es sonst überhaupt nicht mehr kann." Ein Effekt, der leider nicht längerfristig anhält. "Aber es ist interessant, dass der Unterricht diese Fähigkeiten immer wieder aktiviert", findet Anke Feierabend.
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Instrumentalunterricht mit demenziell veränderten Menschen
Ab irgendeinem Stadium der Demenz kann der- oder diejenige nichts mehr mit dem Instrument anfangen. "Sie wissen dann nicht mehr was das ist und was man damit macht. Aber wenn ich ihnen die Geige an den Hals lege, dann fangen sie an zu spielen."
Anke Feierabend wünscht sich, dass möglichst viele Menschen mit Demenz die Möglichkeit bekommen, wieder aktiv Musik zu machen. Sie selbst gibt deutschlandweit Fortbildungen zu dem Thema. "Es gibt viele, viele Menschen in Heimen, die jede Menge musikalischer Schätze in sich bergen. Möglicherweise können sie auch noch viel auf ihren Instrumenten - aber niemand weiß es. Und es weiß auch niemand, wie man diese Schätze hebt." Das möchte Anke Feierabend ändern.
Sendung: "Allegro" am 21. September 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK.