Nikolaus Harnoncourt war der Pionier der historischen Aufführungspraxis für Alte Musik, kaum ein Dirigent hat im 20. Jahrhundert die Musikwelt so fundamental verändert wie er. Dabei polarisierte er mit zügigen Tempi, harschen Akzenten, einer ungefilterten Emotionalität und feierte zugleich überwältigende Erfolge: ob mit Monteverdi, Bach, Mozart, Beethoven oder Bruckner - weltweit prägte er die wichtigsten Dirigentenkollegen und Orchester.
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Nikolaus Harnoncourt - mit vollständigem Namen Johann Nicolaus Graf de la Fontaine und d’Harnoncourt-Unverzagt - aus luxemburgisch-lothringischen Uradel stammend und am 6. Dezember 1929 in Berlin geboren, revolutionierte die Klassik nachhaltig. Sein Ansatz war damals erstaunlich einfach und naheliegend: Warum spielt keiner die Musik der Vergangenheit auf Instrumenten der Vergangenheit?
Instrumente mit fremdartigen Klängen, die ihren Platz in der Musik gehabt haben müssen.
Nikolaus Harnoncourt und seine Frau Alice, 2002 | Bildquelle: SZ-Archiv Mühevoll, mit visionärer Geduld, beschafften Harnoncourt und seine Frau, die Geigerin Alice Harnoncourt, Instrumente vergangener Epochen. 1953 gründeten sie in Wien das Ensemble "Concentus Musicus", parallel versah Nikolaus Harnoncourt bis 1969 seinen Dienst als Cellist der Wiener Symphoniker, spielte dort unter Dirigenten wie Karajan oder Klemperer. Als er mit seinem Concentus Musicus mit historischen Instrumenten 1957 zum ersten Mal in Wien auftrat, wurden die Musiker von vielen als "esoterische Spinner" beschimpft, die nachfolgenden Konzerte aber waren sofort ausverkauft. Danach ging alles sehr schnell: Konzertveranstalter wie Plattenfirmen rissen sich um Nikolaus Harnoncourt und seinen "Concentus musicus", die der Barockmusik nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem entschlackten, transparenten und atmenden Aufführungsstil verhalfen und sie aus ihrem Dornrösschen-Dasein wachküssten. Unter dem Titel "Das Alte Werk" erschienen für die Teldec ab 1971 über 18 Jahre hinweg sämtliche Kantaten Bachs - wegweisende Einspielungen auf 300 Schallplatten, ein Meilenstein der Aufführungsgeschichte, den er mit seinem Mitstreiter Gustav Leonhardt stemmte.
Gemeinsam mit dem Regisseur Jean-Pierre Ponnelle erarbeitete Harnoncourt in Zürich ab 1976 einen legendären Monteverdi-Zyklus, der ihn weltberühmt machte; seitdem schrieb er mit seinen Musiktheaterproduktionen von Amsterdam bis Wien Aufführungsgeschichte, war in den letzten Jahren ein häufiger Gast bei den Salzburger Festspielen. Vor allem Mozart erfuhr mit Harnoncourt am Pult eine neue Gewichtung, etwa seine lebendige Deutung des "Idomeneo", den er aus seinem Opera Seria-Korsett befreite.
Bis heute orientieren sich große Orchester und Dirigenten an Nikolaus Harnoncourts Begriff einer "Klangrede", der Vorstellung eines lebendigen und beredten Musizierstils, für den er in seiner wichtigsten Musikpublikation, dem Buch "Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis" schon 1982 stritt. Mit wacher Neugier, eloquent und einem streitbaren Temperament verfocht Nikolaus Harnoncourt seine musikalischen Ideen, die immer wissenschaftlich fundiert waren, abgesichert durch das Studium historischer Quellen, dabei emotional immer mitreißend. Bloße Wissenschaft zum Selbstzweck, um einige wenige Spezialisten und Puristen zu beglücken, dies war ihm fremd.
Wenn man zu viel Wissen hineinsteckt, kann es unheimlich trocken sein. Es ist zwar alles richtig, aber was herauskommt, ist Staub.
Nikolaus Harnoncourt dirigiert 2003 das Wiener Neujahrskonzert | Bildquelle: picture-alliance/dpa So erhob Nikolaus Harnoncourt die Verwendung von Darmsaiten oder Naturhörnern nicht zum Dogma, arbeitete auch mit "normalen" Orchestern wie den Wiener und Berliner Philharmonikern oder dem Concertgebouw Orchester Amsterdam zusammen, erweiterte sein Repertoire bis hin zu Johann Strauss, Wagner und Gershwin. Sein "Concentus musicus" aber, inzwischen über 60 Jahre alt, ist bis heute als eine der wichtigsten historisch informierten Instrumentalformationen tonangebend. Auf die Frage, ob ihn seine erstaunliche Karriere im Rückblick verwunderte, antwortete der Altmeister der Historischen Aufführungspraxis: "Irgendwie schon. Ich kann nur dankbar sein. Ich habe in eine Zeit hineingelebt, die genau richtig für mich war. Der Umbruch in der Interpretationsweise lag in der Luft. In einer anderen Zeit wäre ich vielleicht Puppenspieler oder Schreiner geworden."
Im Oktober 2005 war Nikolaus Harnoncourt zu Gast in München und setzte sich, wie so häufig, wieder einmal für ein vergessenes Meisterwerk der Musikgeschichte ein: Robert Schumanns Oratorium "Das Paradies und die Peri". Seine Probenarbeit und sein Konzert mit dem Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sind Zeugnis seines unbedingten, inspirierten Arbeitswillens. Und seines lebenslangen kämpferischen Anspruches, musikalische Missachtung und Ignoranz nicht tatenlos hinzunehmen.
Öffentlicher Brief von Nikolaus Harnoncourt an sein Publikum | Bildquelle: picture-alliance/dpa Am 5. Dezember 2015 - einen Tag vor seinem 86. Geburtstag - gab der österreichische Dirigent das Ende seiner aktiven Arbeit am Pult bekannt, in einem handgeschriebenen Brief an sein Publikum. "Meine körperlichen Kräfte gebieten eine Absage meiner weiteren Pläne", so begann der kurze, offene und handgeschriebene Brief von Nikolaus Harnoncourt, der dem Programmheft im Wiener Musikverein beilag. Am 5. März 2016 starb Harnoncourt in St. Georgen im Attergau in Oberösterreich. Dort wurde er auf dem Friedhof beigesetzt. In der Musikwelt herrschte große Betroffenheit. "Er war immer ein Vorbild und wird als solches in Erinnerung bleiben", sagte der Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons, über den großen Dirigenten. Viele Musiker äußern Anerkennung für Harnoncourts Schaffen. Die Salzburger Festspiele hatten auf dem Festspielhaus eine schwarze Flagge gehisst. "Nikolaus Harnoncourt, der Fackelträger, wird uns fehlen, fehlt uns heute schon", hieß es in einer Stellungnahme des Direktoriums. Der damalige österreichische Bundespräsident Heinz Fischer meldete sich aus Kolumbien, wo er einen Staatsbesuch absolvierte: Der Tod von Nikolaus Harnoncourt bedeute einen unersetzlichen Verlust für das österreichische und internationale Musikleben.