Von Händel über Haydn bis Virginia Woolf: Die Figur des Orlando fasziniert. Bayreuth Baroque zeigte nun mit "Orlando furioso" Antonio Vivaldis Sicht auf den Helden. Durch und durch gelungen ist die Neuproduktion von Regisseur Marco Bellussi.
Bildquelle: © Marco Caselli Nirmal, Teatro Comunale Ferrara
Auf der Bühne vollzieht sich bei Bayreuth Baroque im Marktgräflichen Opernhaus ein Kammerspiel für sieben Personen: Orlando, Alcina, Angelica, Bradamante, Medoro, Ruggiero und Astolfo. Sie alle werden vom Regisseur Marco Bellussi spannungsvoll in Szene gesetzt. Er hat lauter Spiegel montiert: an der Rückwand, den Seitenwänden, an der Decke (Bühnenbild: Matteo Paoletti Franzato). Und in diesen Spiegeln spiegeln sich die Figuren – logisch! Das ist aber nur das eine. Das andere sind Videoprojektionen mit dreidimensionalen Effekten, gestaffelt auf transparenten Vorhängen. Nicht ohne Hintersinn: Denn, was wir da im Bewegtbild zu sehen bekommen, ist schlicht und einfach die Natur, sind – "Die vier Jahreszeiten / Quattro Stagioni".
Das heißt: Vivaldis Mega-Hit wird hier visualisiert durch Wälder, durch Bäume, mal bei leichter Sommerbrise, mal bei heftigem Wintersturm. Und das hat bei dieser Oper, bei "Orlando furioso" deshalb seinen Reiz, weil es hier dezidiert um verschiedene Jahreszeiten der Liebe geht. Seelenlandschaften der Geschlechter, die die Abgründe der Eifersucht kennenlernen. Die schwanken zwischen Liebesfähigkeit, Liebesunfähigkeit, Liebesfreud und Liebesleid, Verrücktheit und Verletzlichkeit. Die sich streicheln und doch straucheln.
Manchmal tummeln sich auf einem transparenten Vorhang in strahlend weißen Buchstaben Libretto-Zitate, Gesangstext also. Sobald Orlando aber den Verstand verliert, wirbeln seine Worte orientierungslos über die Bühne. Ein starkes Bild für die zerklüftete Wahnsinnsszene. Es ist eben eine Magierin am Werk: Alcina steht im Fokus, intrigant und gewaltbereit. Sie ist es, die die amourösen Realitäten schafft, in die alle anderen nach und nach eintauchen. Giuseppina Bridelli tritt als Alcina mit wilder Frisur auf, tut seriös in dunkelblauem Ballkleid (frühes 20.Jahrhundert). Die manipulative, kriminelle Aura der Drahtzieherin kommt auch vokal selbstbewusst über die Rampe.
Vivaldi ist in dieser Oper mit ungeheurer Vitalität unterwegs und einer mediterran gefärbten Lässigkeit. Der Dirigent Francesco Corti und sein fabelhaftes Ensemble "Il Pomo d'Oro" zeigen den Komponisten aber auch als Abenteurer. Als Abenteurer musikalischer Grenzerkundungen, immer mit dem Blick auf die Gefühlshaushalte der Bühnenfiguren, ihre Affekte. Dieser "Orlando" enthält Musik in ihrer aufregendsten Form. Farben ohne Ende liefert auch der Titelheld, der ausdrucksintensive ukrainische Countertenor Yurij Mynenko. Beim Bayreuth Baroque Festival etabliert er sich als Star.
In schulterfreiem, langem weißem Kleid (frühes 19.Jahrhundert) duldet Angelica alias Arianna Venditelli keine Zweifel an der Timbre-Qualität ihrer Stimme. Energisch wirft sich Sonja Runje als rothaariger, rot gewandeter Bradamante ins Rennen. Mit der Rolle des Ruggiero punktet Tim Mead in rot-schwarzem Renaissance-Arrangement. Eine Spur zu passiv hingegen: José Coca Loza als Astolfo und Chiara Brunello als Medoro. Mit vereinten Kräften gestalten alle gemeinsam ein Prisma charakterlicher Ambivalenzen. Es gibt viel Szenenapplaus nach den Arien, und gerade bei den tollen Rezitativen dieser Oper ist das Publikum hochkonzentriert - mucksmäuschenstill. Kein Mensch hustet, über dreieinhalb Stunden hinweg. Und am Ende? Bravi für alle Beteiligten - inklusive Regieteam.
Sendung: "Allegro" am 11. September 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Mittwoch, 11.September, 11:57 Uhr
Urban
Orlando
Es war wunderbar!