Terroranschläge, Gewalt und Kriminalität bestimmen seit vielen Jahren das Leben der Menschen in Irak. Doch es gibt immer wieder Geschichten voller Hoffnung. An einer hat der schottische Dirigent Paul MacAlindin mitgewirkt - und ein Buch darüber geschrieben.
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Fish’n’Chips, dazu ein Bier und ein bisschen durch die Zeitung blättern. Mehr hat der schottische Dirigent Paul MacAlindin eigentlich nicht im Sinn, als er im Herbst 2008 in Edinburgh in seinem Lieblings-Pub sitzt. Bis ihm eine Annonce ins Auge fällt: Britischer Maestro für Orchestergründung im Irak gesucht.
Als Musiker hatte ich sofort eine kulturelles Interesse.
"Es gab in diesen Momenten viele Fragen, die durch meinen Kopf gegangen sind", bericht Paul MacAlindin. "Erstens: Wer sind die Iraker? Wir kennen seit Jahren die Berichte in der Presse über Gewalt, Korruption und religiöse Gewalt. Aber was wir nicht wissen ist, wer die Opfer dort wirklich sind. Was spielen sie für Musik? Woher haben sie ihre Instrumente? Als Musiker hatte ich sofort ein kulturelles Interesse - und den Drang, mehr herauszufinden."
Als Dirigent ist Paul MacAlindin seit 1993 tätig. Er arbeitete als Assistent von Sir Peter Maxwell Davies und wirkte mit beim Scottish Chamber Orchestra, der BBC Philharmonie und der Royal Philharmonic. Er leitete verschiedene Orchester: das New Zealand Symphony, die Tonhalle Düsseldorf und das National Youth Orchestra of Scotland. In seinem Buch "Bis der letzte Ton verklingt" (Heyne Encore) beschreibt er seine Zeit als Dirigent des National Youth Orchestra of Iraq.
Bildquelle: Sandstone Press Zurück in Köln, wo MacAlindin damals lebt, kontaktiert er die Person, die hinter der Annonce steckt: eine 17-jährige Pianistin aus Bagdad namens Zuhal Sultan. Die beiden skypen miteinander. Wieder und wieder. Und peu à peu stampfen sie aus dem Nichts ein nationales irakisches Jugendorchester aus dem Boden: das National Youth Orchestra of Iraq.
"Ich setzte mich in den Starbucks, Köln-Rudolfplatz. Jeden Tag. Manchmal bis zu vier Stunden - mit meinem Laptop und habe alles online organisiert. In diesem Bereich von Youtube, Skype und E-Mails konnten wir alles so sicher wie möglich festklopfen, bevor ich hinfliegen konnte, um unsere Sommerkurse in Sulaimaniyya und Erbil zu abzuhalten."
Zu den insgesamt fünf Sommerkursen, die zwischen 2009 und 2013 im Irak stattfinden, kommen Musikerinnen und Musiker, kurdische und arabische junge Leute zwischen 14 und 29, die online über Video-Bewerbungen ausgewählt wurden, und die sich jahrelang autodidaktisch, mal untereinander, mal mit Youtube-Videos selbst unterrichtet hatten.
"Es gab eine Motivation auf einem Niveau, die ich in Europa bei Musikstudenten nie erlebt habe. Was mich beeindruckt hat, war, wie leistungsorientiert sie waren. Obwohl sie in einem Land während des Krieges klassische Musik selber lernen mussten."
Das National Youth Orchestra of Iraq spielt Beethoven, Haydn, Schubert. Aber auch Kompositionen von kurdischen und arabischen Irakern. Völkerverständigung at it‘s best. Das Orchester gastiert in Frankreich, Großbritannien - auch in Deutschland, 2011 beim Beethovenfest in Bonn. Deutsche Zeitungen schreiben von einem "musikalischen Wunder", einem "historischen Moment". Trotzdem: Es gibt immer wieder Hängepartien - auch bei ihrem musikalischen Direktor Paul MacAlindin.
Bildquelle: Heyne Verlag "Ich wollte eigentlich jeden Tag alles hinschmeißen. Aber das konnte ich nicht aus verschiedenen Gründen: Erstens, weil man sehr schnell in diese jungen Leute verliebt ist. Man findet sie so toll, dass sie so mutig sind, so viel Talent haben. Und egal, wie schlecht mein eigener Zustand war, war es wesentlich besser, als was sie erlebt haben. Zweiter Grund ist, dass wir parallel zu unseren Sommerkursen eine Nicht-Regierungs-Organisation, eine Stiftung in Bagdad auf die Beine stellen wollten, damit die Musikerinnen selber alles organisieren konnten. Und das hat insgesamt fünf Jahre gedauert. Mein Job war es, durchzuhalten bis sie sich selber um sich kümmern konnten.“
Diese Stiftung gibt es mittlerweile. Doch schon seit 2014 ruht die Probenarbeit des Orchesters. Zu schwierig ist die derzeitige Lage im Irak in Zeiten von IS-Terror, Leid, Hunger, Zerstörung. Einige Orchestermitglieder machen zwar noch Musik, in eigenen Projekten oder im nationalen Symphonieorchester. Aber viele haben ihr Land auch verlassen, Asyl beantragt in Deutschland, Italien, Finnland oder Kanada. Eine Zeit der Umbrüche - auch für Dirigent Paul MacAlindin, der seine Erfahrungen in ein fast 400 Seiten dickes Buch gepackt hat mit dem Titel "Bis der letzte Ton verklingt". Ob es tatsächlich so etwas wie einen Bruch gegeben hat zwischen Paul MacAlindin und dem Orchester - darüber erfährt man in dem Buch nichts. Und auch im Gespräch bleibt MacAlindin vage: "Das ganze Projekt hat mich sehr belastet", sagt er. "Deswegen bin ich immer noch in einer Ruhepause, während derer ich mein eigenes Leben wieder auf die Beine stellen kann. Ich wohne jetzt in Großbritannien. Und es ist mir wichtig, dass das Buch nicht nur eine gute Geschichte ist, sondern auch meine persönliche Lernerfahrung wiedergibt. Damit andere Leute inspiriert werden könnten - aber auch erfahren wie die Risiken wirklich sind, und was man realistischerweise schaffen kann in einem Land mit Kriegszustand."
Nach seiner vorübergehenden Zwangspause will das National Youth Orchestra of Iraq gestärkt weiter machen, so schreiben es die Musiker auf ihrer Facebook-Seite. Dann jedoch ohne Paul MacAlindin.