Der Roman von Dave Eggers sorgte vor sechs Jahren für viel Aufsehen, warnte der Bestseller doch vor der Daten-Sammelwut der Netz-Konzerne. Komponist Ludger Vollmer machte daraus eine Oper, die am Deutschen Nationaltheater in Weimar als ätzende und zeitgemäße Sekten-Satire rundum überzeugt.
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Die gute Nachricht zuerst: Auch im Zeitalter der Datenkraken und der totalen Überwachung wird es Privatsphäre geben, allerdings nur auf dem Klo und für maximal drei Minuten. Die schlechte Nachricht: Diese Zeit wird kaum einer nutzen, denn in naher Zukunft sind Geheimnisse automatisch Lügen, alles Private ist gleichbedeutend mit Diebstahl und alle privaten Erlebnisse im Netz miteinander Teilen heißt soviel wie "Heilen". Eine Schreckensvorstellung mit der Dave Eggers vor sechs Jahren für viel internationales Aufsehen sorgte.
Gefangen im digitalen Netz der Datenkraken. | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Candy Welz Sein Roman "The Circle" ist ein Manifest gegen den Datenhunger der Internet-Riesen, gegen Google, Amazon, Facebook und Apple. Dave Eggers selbst sieht seine schlimmsten Befürchtungen inzwischen bewahrheitet, und am meisten ärgert ihn, dass die Netz-Gemeinde all ihre Daten weitgehend freiwillig zur Verfügung stellt, wie er dem Programmheft des Deutschen Nationaltheaters in Weimar anvertraute. Mit der Opernfassung seines 600-Seiten-Buches ist er offenbar einverstanden, jedenfalls stellte er sich etwas schüchtern, aber gut gelaunt dem Schlussapplaus nach der Uraufführung.
Textdichterin Tiina Hartmann und Komponist Ludger Vollmer zeigen über drei Stunden den rasanten Aufstieg der so ehrgeizigen wie skrupellosen Mae, die es im sozialen Netzwerk "The Circle" schnell von der Kundenbetreuerin zur Führungskraft bringt. Musikalisch ist das oft Satire, etwa wenn Ludger Vollmer den Einzug der Firmenchefs mit schwungvollen Gospelhymnen begleitet, am Ende gar Kirchenchoräle zitiert, wenn sich alle Beteiligten zuversichtlich für "Gott" halten. Mit viel Lust an der ätzenden Persiflage wird San Francisco im Stil der Flower-Power-Generation besungen, kommt andächtiger amerikanischer Patriotismus vor und wenn es um die guten, alten Zeiten geht, scheut sich Vollmer auch nicht, ein paar Takte wie Mozart zu klingen.
Meist jedoch hat die Musik kein Eigenleben, sondern erinnert an das Geklimper in Warteschleifen und Fahrstühlen: Diese Oberflächlichkeit, das Säuseln der Geigen und das unverbindliche Klingeln der Xylophone und der glockenhellen Crotales-Scheiben ist volle Absicht, will Vollmer doch gerade damit die Verführungskunst der Konzerne illustrieren. Umso rabiater wechselt er an dramatischen Stellen in eisigen Radau, dann nämlich, wenn der "Circle" über Leichen geht. Insofern ist der Abend musikalisch kontrastreich, spannend, voller Untiefen, schwankend zwischen bizarrer Karikatur und gruseliger Brutalität.
Sayaka Shigeshima (rechts), als Mae, und Chorsängerinnen in "The Circle" am Deutschen Nationaltheater. | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Candy Welz Regisseurin Andrea Moses findet dafür packende, bisweilen optisch überfordernde Bilder, denn neben der Bühnenhandlung werden auf zwei Bildschirmen Zusatzinfos über die jeweils handelnden Personen gegeben, als ob jeder Zuschauer sofort deren betriebsinternes Netz-Profil zur Hand hat (Ausstattung: Raimund Bauer). Hauptdarstellerin Mae muss sich schließlich auch mit neun (!) Bildschirmen gleichzeitig herumschlagen. Kein Wunder, dass sie darüber ihre Familie, die von Cherokee-Indianern abstammt, zunehmend aus den Augen (und dem Herzen) verliert. Herrlich, wie Kostümbildnerin Svenja Gassen diese schöne, neue Welt modisch geprägt hat! Die Mitarbeiter des "Circle" tragen vorzugsweise Klamotten in Pastell-Tönen und latschen in lässigen Espadrilles oder Sandalen herum, halb Sektenmitglieder, halb Strandurlauber. Die Führungsclique geht gern "surfen" und gefällt sich selbst in priesterähnlichen Roben. Hier gilt´s dem Glauben, und zwar dem an die "100 Prozent" Zustimmung, alles andere gilt als Niederlage. Deshalb kommt Mae auch nicht damit klar, dass drei Prozent ihrer Follower sie nicht "liken", und ihr lascher Liebhaber will trotz seiner Erektionsstörungen partout mit "100 Prozent" bewertet werden, um es flugs der Welt zu posten.
Ty, der so geniale wie gutgläubige Gründer dieses Hokuspokus, erscheint als Andy-Warhol-Wiedergänger mit platinblonder Frisur, ist von innen Hippie und von außen Nerd. Ja, das ist alles hochaktuell, aber auch total altmodisch, denn diese Art Kapitalismuskritik gibt´s in Deutschland schon seit 70 Jahren. Da schwingt die "Dialektik der Aufklärung" mit, bekanntlich ein Text von 1944, in dem Theodor Adorno und Max Horkheimer die Schaffung des neuen Menschen kritisieren, vor allem den totalen Bankrott der Vernunft, der Aufklärung, die in Diktaturen so radikal daher kommt, dass sie in ihr krasses Gegenteil, nämlich Religion umschlägt.
Chorszene der Erleuchtung. | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Candy Welz Der große Aufwand hat sich gelohnt: Eine grandiose Leistung des Deutschen Nationaltheaters Weimar, des Dirigenten Kirill Karabits, der 24 Solisten und des viel beschäftigten Chors. Die nichtdeutschen Sänger kamen bei den längeren Sprechstellen schauspielerisch mitunter an ihre Grenzen, auch die Japanerin Sayaka Shigeshima in der Hauptrolle der Mae, aber nachdem der "Circle" ja im multikulturellen Kalifornien spielt, war das durchaus plausibel. Freundlicher, aber auch etwas verstörter Applaus des Publikums.
Ludger Vollmer: "The Circle" (2019)
Deutsches Nationaltheater Weimar
Uraufführung: 4. Mai 2019
Inszenierung: Andrea Moses
Musikalische Leitung: Kirill Karabits
Infos zu Terminen und Besetzung finden Sie auf der Homepage des Deutschen Nationaltheaters.
Sendung: "Allegro" am 06. Mai 2019 ab 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK