Das Bayerische Staatsballett hat die Ballettfestwoche 2023 eröffnet. Der moderne Zweiteiler "Schmetterling" zeigt ernste Themen voll leichtem Theaterzauber. Ein voller Erfolg.
Bildquelle: Wilfried Hösl
Mit der Sprache ist es ein Kreuz. Segen der Menschheit, die dadurch Fantasie zum Leben erwecken kann. Und Fluch, weil eben diese Menschheit aus dem riesigen Archiv nie die passenden Worte findet, wenn es denn wirklich drauf ankommt. Sprachlosigkeit in der Beziehung und die (heilende) Kraft, die in ihr steckt, sind der rote Faden in "Schmetterling". Damit eröffnet das Bayerische Staatsballett die erste Ballettfestwoche unter Laurent Hilaire. Eine zentrale Inspirationsquelle des Duos Sol León und Paul Lightfoot ist der Stummfilm. Sei es in Gesten und Mimik der Tänzerinnen und Tänzer. Sei es mit Filmsequenzen, die den ersten Teil begleiten, projiziert auf einem dreigeteilten Rundhorizont, der Titel ("Silent Screen“) lässt grüßen.
Anfang und Ende der Reise eines Paares ist der Blick aufs offene Meer. Dazwischen: Sehnsucht und Hoffnung, Wut und Trauer, Schmerz und Glück, Raserei und Zeitlupe, sprich: der ganz normale Beziehungswahnsinn, eingefangen in extrem affektreichem Tanz mit vielen kleinen Wiederholungssequenzen. Dazu passt die Minimal Music von Philip Glass perfekt, die sich wie ein Wirbel stets ein bisschen weiter dreht, tiefer bohrt, aufbaut und ganz nebenbei das Rhythmusgefühl verwischt.
Staatsballetttänzer Osiel Gouneo. | Bildquelle: Nicholas Mackay Dieses Verwischen nehmen León und Lightfoot mit ihrem Spiel der Perspektiven wunderbar wieder auf. Silhouette und Schatten, Leinwand und Reel, verkleinert und gezoomt. Dabei gesellen sich zu dem Paar auch immer wieder Dritte und Vierte, in schlichtem schwarz gekleidet. Und dann gelingt ein starker Theatercoup: aus dem Bühnenboden steigt, mit dem Rücken zum Publikum, eine Solistin mit weit geschwungenem Kleid. Je weiter sie nach hinten geht, desto klarer wird: der Rock ist der Stoff, der über den gesamten Bühnenboden drapiert war, er wird lebendig, hemmt sie beim Gehen, schwingt sich auf zu wogenden Wellen und – verschwindet im Nichts. Davor und danach: Leere, die den Raum füllt. Auch im Loslassen steckt Kraft, die man braucht für einen Neuanfang.
Im Zweiten Teil geht es deutlich lockerer zu. Das liegt auch an den Feel-Good-Liedern der Band The Magnetic Fields. Hier lacht ein Tänzer auch mal über sich selbst, streckt die Tänzerin die Zunge raus, hier wird geneckt und gecheckt, gesprungen und gekrochen. Auch hier mal solo, zu zweit und im Ensemble, dabei die Männer überwiegend in schwarzen Frauenkleidern. Das ist alles nicht nur perfekt komponiert, sondern auch ebenso getanzt. Da stimmt jeder Blick, die Nuance einer gebenden Hand im direkten Gegenüber zum Vulkanausbruch ekstatischer Körper. Hände, Finger, Augen, Beine, alles ist auf- und gerne auch mal ineinander abgestimmt. Dabei bieten zentralperspektivisch nach hinten sich verjüngende Türrahmen den einzigen Halt auf der riesigen Bühne, die über den Orchestergraben erweitert wurde.
Bildquelle: Carlos Quezada Die teilweise nur zweiminütigen Miniaturen huschen über die Szene, wie der titelgebende Schmetterling: Irrer Richtungswechsel, schwebend leicht. Aber Sol León und Paul Lightfoot sind zu klug für platte Flatter-Bewegungen. Stattdessen schieben sie ganz subtil die schweren Themen ein, die der Schmetterling auch mit sich bringt: Veränderung und Vergänglichkeit. Mal ist es nur eine Seite des Körpers, die innehält, mal ist es das Aufeinanderprallen zweier Gegensätze, auch was den Tanzstil betrifft: Jung und Alt, schnell und langsam, Leben und Tod – alles schreiend nah beieinander. Ganz ohne schreien zu müssen.
Am Ende dann nochmal das große Innehalten mit der Musik von Max Richter und die Frage: was wurde gesagt? Was kam an? Mag schon sein, dass der Philosoph Ludwig Wittgenstein recht hatte, als ihm der berüchtigte Satz einfiel, dass man schweigen muss, wovon man nicht sprechen kann. Nach diesem Abend will man hinzufügen: Es gibt ja zum Glück noch den Tanz, was das Publikum auch so sah: Geschlossenes Standing Ovation im fast ausverkauften Nationaltheater.
Mit "Schmetterling" eröffnete das Bayerische Staatsballett die Ballettfestwoche 2023. Bis zum 8. April gibt es Vorstellungen aus dem Repertoire der Kompanie. Etwa den "Sommernachtstraum" am 1. April, "Romeo und Julia" am 3. April oder die jüngste Premiere, Alexei Ratmanskys "Tschaikowski-Ouvertüren" am 8. April.
Sendung: "Piazza" am 1. April ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Dienstag, 04.April, 18:25 Uhr
euphrosine
so schön kann modern sein
Ein - in allen Facetten des Adjektivs - traumhaft schöner Abend, mit unendlich vielen Facetten, emotional wie tänzerisch. Wahrlich eine Bereicherung des Reperoires.
Ein Hoch dem Choreographenpaar und unseren aus allen Winkeln der Erde stammenden bayerischen Staatstänzer*innen: ihr seid phantastisch!
Und, so wir es denn letztlich noch Herrn Zelensky zu verdanken haben: Was für ein wunderbares Abschiedsgeschenk an die Compagnie und uns Zuschauer.