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Dirigent Sir Simon Rattle "Orchester müssen auf die Menschen zugehen"

Sir Simon Rattle ist seit September Chefdirigent des BRSO. In einem ausführlichen Video-Interview mit Journalist Edward Blakeman spricht Rattle über seinen Neustart in München. Und rügt die bayerische Politik.

Sir Simon Rattle | Bildquelle: Thomas Rabsch / Warner Classics

Bildquelle: Thomas Rabsch / Warner Classics

Im bunt gestreiften Pullover sitzt Sir Simon Rattle bei sich Zuhause in Berlin. Die Bäume vor dem Fenster sind bedeckt von einer dicken Schneeschicht. "Bei mir draußen sieht es aus wie auf einer Weihnachtskarte", lacht Rattle in die Kamera. Ein hübscher Hintergrund fürs Videogespräch, kontert Interviewer Edward Blakeman charmant, er ist ehemaliger Musikchef von BBC Radio 3.

Sir Simon Rattle: herzliche Worte für Mariss Jansons

Doch es soll nicht ums Winterwetter gehen bei diesem einstündigen Talk im EBU-Programm "Music and Radio 60-minute sessions". Vielmehr steht Rattles Start als Chefdirigent beim BRSO im Zentrum des einstündigen Interviews. "Was für eine großartige Gruppe von Menschen", schwärmt Rattle von seinem neuen Klangkörper in München. Leidenschaftliche Zusammenarbeit, Menschlichkeit, Familie: Mit diesen Worten beschreibt Rattle das BRSO. Und er dankt seinem Amtsvorgänger, dem 2019 verstorbenen Mariss Jansons, der ihn ermutigt habe, das Orchester zu dirigieren.

Es ist eine seltsame Art von Heimkehr.
Sir Simon Rattle über seinen Start als Chefdirigent beim BRSO

Als 15-Jähriger habe Rattle das BRSO erstmals in Liverpool erlebt, mit Beethovens 9. Symphonie. Nun steht er selbst als Chefdirigent vor dem Orchester. "Es ist eine seltsame Art von Heimkehr". Das erste gemeinsame Konzert aber fand bereits viel früher statt: 2010 dirigierte Rattle das BRSO mit Schumanns "Das Paradies und die Peri." Und er hofft sehr, dieses Meisterwerk in Zukunft noch einmal aufzuführen.

Rattle pendelt zwischen Berlin und München

Sir Simon Rattle | Bildquelle: dpa-Bildfunk Mit Humor und Menschlichkeit: Sir Simon Rattle am Dirigierpult. | Bildquelle: dpa-Bildfunk Trotz Chefdirigat in München: Simon Rattle wohnt weiterhin in Berlin und pendelt in die bayerische Hauptstadt. München und Berlin seien komplett verschieden, so Rattle - wie auch die beiden Orchester, die Berliner Philharmoniker und das BRSO. In München gefalle ihm die Kommunikation und die Freundlichkeit besonders. Im besten Fall sei die Beziehung zwischen Dirigent und Orchester wie in einer Ehe: "Liebe und Respekt müssen auf beiden Seiten fließen." Ach ja, und Humor helfe auch oft weiter.

Als Blakeman und Rattle auf die Aufgabe von Orchestern zu sprechen kommen, stellt der Dirigent klar: "Ein Orchester sollte Teil des Zentrums einer Gesellschaft sein." Denn Musik wirke lebensverändernd. Und für eine gut funktionierende Gesellschaft sei es wichtig, eine gesunde Kulturszene zu haben. "Das Privileg von Orchestern und Chören sollte man nie als gegeben betrachten, man muss immer wieder dafür kämpfen", so Rattle.

Eine gesunde Kulturszene ist wichtig für eine gut funktionierende Gesellschaft.
Sir Simon Rattle

Simon Rattle: BRSO braucht eigene Spielstätte in München

Ein Orchester mache eine Stadt zu einem lebenswerten Ort. Dazu sei es allerdings nötig, dass das Orchester auf die Menschen zugehe. Auch für das BRSO sieht Rattle das als fundamentale Aufgabe. "Aber um den Menschen etwas mitzugeben, braucht man einen Ort." Stichwort Konzerthaus-Debatte. "Das BRSO hat kein eigenes Zuhause. Es ist immer auf Tour, in seiner eigenen Stadt." Diese Heimatlosigkeit mache es schwer, als Orchester in der Stadt sichtbar zu werden. Kein guter Zustand für Rattle. Er hofft, dass die Konzerthauspläne in München endlich vorankommen. Und stellt auf seine feine, humorvolle Art fest: "In der bayerischen Politik tendieren die Dinge dazu, sich nicht gerade mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen."

Im 21. Jahrhundert sei es mit einem simplen Konzertsaal à la 19. Jahrhundert nicht mehr getan, so Rattle. "Die Architektur muss Menschen neugierig machen und anziehend wirken." Es müsse Raum für Education-Projekte geben.

In der bayerischen Politik tendieren die Dinge dazu, sich nicht gerade mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen.
Sir Simon Rattle über die Konzerthaus-Pläne in München

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In conversation with Sir Simon Rattle

Mehr Zusammenarbeit mit anderen Kunstformen

Ob das klassische Konzertformat demnächst ausgedient habe, fragt Blakeman. Das Konzertformat habe sich in der Vergangenheit immer wieder leicht verändert, entgegnet Rattle. Der Geschmack des Publikums bleibe eben nicht gleich, da müsse man mitgehen. "Wir sollten mehr mit anderen Kunstrichtungen kooperieren und uns da keine Grenzen setzen", meint der Dirigent. Auch über kürzere Konzerte mit früheren Uhrzeiten sollte man nachdenken.

Begeistert äußert sich Rattle über das Konzept der BRSO Akademie, bei der angehende Orchestermusikerinnen und -musiker zwei Jahre lang miteinander leben und lernen. Er wolle den jungen Musikerinnen und Musikern alle Musikepochen näher bringen. Wichtige Musikerskills sind für Rattle außerdem, über Musik sprechen zu können und auf Menschen zuzugehen.

Rattle erfreut über wachsende Zahl von Dirigentinnen

Sir Simon Rattle | Bildquelle: Astrid Ackermann Jeder Mensch sollte die Möglichkeit bekommen, Musik zu erfahren, meint Sir Simon Rattle, Chefdirigent des BRSO in München. | Bildquelle: Astrid Ackermann Auch um das Thema Diversität geht es im Interview mit Edward Blakeman. Sir Simon Rattle zeigt sich sehr erfreut über die Bandbreite an Kunstschaffenden und aufgeführten Werken. Zur wachsenden Zahl der Dirigentinnen meint er: "Endlich! Es wurde auch höchste Zeit." Als Chefdirigent ist es Rattle auch ein Anliegen, Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen Zugang zu Musik zu ermöglichen. Nicht jede Kunstform sei für jeden. Aber jeder sollte die Möglichkeit bekommen, sie zu erfahren, so Rattles Credo. Das große Plus der Klassischen Musik sieht er in der "spirituellen Erfahrung, der Ruhe, auch der Herausforderung".

Auf die Frage Blakemans, wo sich Rattle momentan sehe, antwortet er verschmitzt: "Wenn man zu zufrieden wird mit dem, was man erreicht hat, ist das ein Problem." Er sei immer auf dem Weg, und glücklich, mit so großartigen Musikern zusammenzuarbeiten. Sein Ziel als Dirigent? Wenn er Menschen ermöglichen kann, ihr Können, ihr Talent auszudrücken.

Rattles Dirigierstil: Menschlichkeit statt strenge Disziplin

Am Ende des Gesprächs liest Blakeman noch einige Fragen vor, die User während des Interviews im Chat gestellt haben. Sein Dirigierstil? Da läge Rattle Menschlichkeit näher als strenge Disziplin. "Obwohl meine Familie und Orchester wahrscheinlich sagen, dass ich auch schrecklich herrisch und dickköpfig bin", fügt er augenzwinkend hinzu.

Musik zeigt uns, was es heißt, Mensch zu sein.
Sir Simon Rattle

Die Zeit ist um, Blakeman formuliert seine letzte Frage: Was Rattle den Menschen durch Klassische Musik geben wolle. "Dass Musik uns zeigt, was es heißt, Mensch zu sein. Dass wir nicht allein sind, das jemand genauso fühlt." Musik ist für Rattle ein Grundbedürfnis wie Essen und Trinken. Und er richtet seinen Dank "an alle da draußen, die Kunst und Kultur lebendig halten."

Sendung: "Allegro" am 30. November 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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