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Choreograph Wayne McGregor im Interview "Hier hat die Musik mich gefunden"

Wayne McGregor hat seine eigene Art zu proben: Er zischt, schnalzt und knirscht, statt Befehle zu erteilen. "Portrait Wayne McGregor" heißt ein dreiteiliger Ballettabend, bestehend aus seinen Stücken "Borderlands", "Kairos" und "Sunyata". Damit eröffnete das Bayerische Staatsballett die diesjährige BallettFestwoche in München.

Choreograph und Balletttänzer Wayne McGregor | Bildquelle: © Pål Hansen

Bildquelle: © Pål Hansen

BR-KLASSIK: Wayne McGregor, wenn Sie zu einer Compagnie kommen und ein neues Stück einstudieren, wie viel haben Sie auf dem Papier, wie viel steht also fest und wie viel entwickeln Sie, nachdem Sie die Tänzerinnen und Tänzer kennen gelernt haben?

Wayne McGregor: Für mich ist eine Choreographie immer ein Miteinander, ein "Wir" und nicht ein "Ich". Aber ganz klar, ich bereite schon eine Menge vor. Jetzt zum Beispiel, mit dem Staatsballett, habe ich "Sunyata" ganz neu einstudiert. Die Bewegungsabläufe sind komplex, die Musik von Kaija Saariaho ist kompliziert, der Sufi-Text ist tiefgründig. Ich arbeite schon seit fast zwei Jahren an dem Stück und natürlich steht viel fest. An den Kostümen und der Bühne zum Beispiel habe ich auch nichts mehr verändert. Wenn ich dann in den Ballettsaal komme, möchte ich trotzdem frisch herangehen. Ich habe kein Bild im Kopf, wie alles am Ende auszusehen hat. Es muss Raum für das Ballett geben, für die Möglichkeiten der Tänzerinnen und Tänzer, so dass es sich zu etwas Lebendigem entfaltet.

Meine Tänzerinnen und Tänzer müssen ihren Körper erspüren und nicht jede Bewegung im Spiegel kontrollieren wollen.
Wayne McGregor, englischer Choreograph

BR-KLASSIK: Die Bewegungsabläufe, die Sie sich ausdenken, sind manchmal so kompliziert, dass man sich als Zuschauer fragt: Wie bitte ist das rein anatomisch möglich?!

Wayne McGregor: Dazu muss ich ein paar Dinge erklären: diese Art der Tanzsprache entwickle ich häufig gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern, wenn ich ihre Stärken herausgefunden habe. Der eine springt hoch, der andere ist außergewöhnlich gelenkig, da ist individueller Spielraum drin. Was die Szenerie angeht, die Bewegung im Raum, so habe ich da ganz klare Vorstellungen und die müssen eingehalten werden. Freie Improvisation oder so etwas gibt es bei mir nicht. Und was die körperlichen Voraussetzungen betrifft, findet man technisch gesehen in jeder guten Ballett-Compagnie immer ein enorm hohes Level. Die Mitglieder meines Ensembles müssen allerdings darüber hinaus gehen, müssen sich neu formen können, anders "tunen", müssen ihren Körper erspüren und nicht jede Bewegung im Spiegel kontrollieren wollen.

Sufi-Poesie, Orchesterklang und Elektronik

BR-KLASSIK: Welche Bedeutung hat die Musik für eine Choreographie?

Szenenbild Portrait Wayne McGregor Sunyata Choreographie an der Bayerischen Staatsoper | Bildquelle: © Wilfried Hösl Szenenbild "Sunyata" aus "Portrait Wayne McGregor", BallettFestwoche München 2018 | Bildquelle: © Wilfried Hösl Wayne McGregor: Natürlich ist die Musik wichtig, aber für mich bringt sie keinen Prozess in Gang. Als ich mit dem Ballett "Sunyata" angefangen habe, war ich im Iran im Urlaub. Mich hat die Literatur, die Kultur, die Architektur unglaublich inspiriert. Und ich wollte in das neue Stück irgendwie dieses "Persische" einfließen lassen. Dabei stieß ich auf das Werk "Circle Map" von Saariaho, ich mochte auf Anhieb das Zusammenspiel aus Sufi-Poesie, Orchesterklang und Elektronik. Für mich war das so gigantisch wie ein Strand: ein regelrechter Sandsturm an Möglichkeiten, an Impulsen! Hier hat die Musik mich gefunden und nicht andersherum.

Choreografie als Text

BR-KLASSIK: Gibt es in Ihren Balletten eigentlich eine Geschichte im Sinne einer Handlung?

Wayne McGregor: Ich bin der Meinung, alles ist irgendwie Geschichte. Es gibt sowieso nichts Abstraktes und damit auch keinen "abstrakten Tanz". Allem liegt eine Bedeutung zu Grunde. Das ist es ja auch, was das Publikum macht: Punkte miteinander zu verbinden, Bekanntes mit Unbekanntem zu vernetzen. Also der Frage nachzugehen: Was sehe ich? Und das ist erstmal ziemlich konkret. Ich sehe ein Bühnenbild, eine persische Miniatur, acht Tänzer. Das Faszinierende ist: trotzdem tut sich Tanz mit dem Konkreten sehr schwer. Er gleitet buchstäblich an einem vorbei. Und doch hat er seine eigene Sprache. Das ist es, was mich interessiert - mit dem Publikum über diese wenig konkreten Inhalte zu verhandeln.

Eine Choreographie sollte deine Idee, dein Bild von körperlicher Schönheit herausfordern, sogar verändern.
Wayne McGregor, englischer Choreograph

BR-KLASSIK: Also wäre es am besten, wenn man sich Ihre Stücke mehrmals anschaut, um sich in die Sprache einzufinden?

Wayne McGregor: Ja. Denn der Unterschied zwischen dem Anderen und dem Vertrauten ist nie so groß, wie man meint. Davon abgesehen ist Tanz ja keine Detektivgeschichte, bei der du dauernd nach Beweisen suchen musst. Tanz sollte durch einen hindurch fließen und Gefühle auslösen. Manchmal sind die angenehm, manchmal schön, manchmal verstörend. Eine Choreographie sollte deine Idee, dein Bild von körperlicher Schönheit herausfordern, sogar verändern. Ich finde, die Aufgabe einer Choreographie, des Theaters überhaupt ist, dass sich deine Haltung, dein Blick in irgendeiner Weise verändert! Und dass es sich verhält, wie beim Lesen eines guten Textes: je öfter man ihn liest, desto bedeutungsvoller und reicher wird er!

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