Mit dem Deutschen Musikautorenpreis 2019 wird Wolfgang Rihm für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Im Interview mit BR-KLASSIK spricht der Komponist über die Verbindung von Leben und Werk. Außerdem erzählt er auch offen von seiner Krankheit und verrät, was ihn dazu gebracht hat, Komponist zu werden.
Bildquelle: BR, Astrid Ackermann
Auszeichnung für sein Lebenswerk
Im Gespräch mit dem Komponisten Wolfgang Rihm
BR-KLASSIK: Herr Rihm, ich würde mit Ihnen gerne über das schöne Wort Lebenswerk sprechen …
Wolfgang Rihm: … das drängt sich wirklich auf. Das muss man sich erst einmal mundgerecht machen! Auf der einen Seite steckt da die schöne Vorstellung drin, dass sich das Leben im Werk vollendet.
BR-KLASSIK: Auf der anderen Seite kann es auch sein, dass das Werk das Leben auffrisst. Wie vertragen sich bei Ihnen Leben und Werk?
Wolfgang Rihm: Das ist eine interessante Hypothese. Bei dem Begriff "Lebenswerk" erschrickt man zunächst als Betroffener. Weil man denkt: Aha, schon vorbei. Das ist jetzt das Lebenswerk. Aber ich habe noch einiges vor. Mal sehen, ob es noch kommt.
BR-KLASSIK: Wir freuen uns jedenfalls drauf!
Das Leben hat das Werk hervorgebracht.
Wolfgang Rihm: Dann habe ich mir den Begriff essbar gemacht - durch den Gedanken, dass das Leben als zentrale Auslöser-Substanz für das Werk zu gelten hat. Alles, was ich an Werk hervorgebracht habe, verdankt sich einem Leben; und nicht etwa einer Strategie, Theorie oder Versuchsanordnung. Es war immer das Leben selber. Ich weiß ja nicht, ob es stimmt. Aber so habe ich jedenfalls das Gefühl: Das Leben hat das Werk hervorgebracht.
BR-KLASSIK: Hat das Leben das Werk auch manchmal behindert? Wenn man zum Beispiel ein junger unglaublich produktiver Komponist ist, plötzlich Vater wird und dann auf einmal nächtelang nicht mehr schlafen kann…
Bildquelle: © Astrid Ackermann Wolfgang Rihm: Ich durfte eine ganz andere Folgeerscheinung miterleben: dass ich noch produktiver wurde. Weil ich viel mehr zu Hause war damals, als meine Kinder auf die Welt kamen, und eben nicht permanent unterwegs wie sonst. Im Schutz der neuen Aufgabe konnte ich viel besser arbeiten. Ich habe immer das Gefühl gehabt, wenn ich etwas zu sagen habe, dann geschieht das - unter welchen Zuständen auch immer. Ich neige gar nicht dazu, nach außen zu delegieren, wenn etwas nicht klappt. Sondern ich sage mir dann: Ich weiß schon, wer schuld ist - immer ich selbst. Und so war das auch damals vor vielen, vielen Jahren, als die Kinder auf die Welt kamen.
Das Leben ist eine Werk-Auslösungs-Substanz.
Wenn ich das Leben als Werk-Auslösungs-Substanz reklamiere, meine ich nicht erzählbare Geschichten und Ereignisse, sondern das Prinzip, lebendig zu sein - changierend zwischen Chemie und Philosophie. Einerseits ist es ein chemischer Prozess, andererseits ist es ein durchaus bis in die Moralphilosophie hinein bedenkbarer Vorgang. Damit meinte ich also nicht: Und dann ist das und das passiert, siehe da, und dann habe ich dieses Stück geschrieben, und das ist deswegen so lustig, weil gerade der und der gestorben ist. Mit dieser Biografik wollen wir erst gar nicht anfangen.
BR-KLASSIK: Wenn Sie sagen, das Leben ist auch ein chemischer Prozess, dann denke ich an den Körper. Man kann ja manchmal sogar an der Art, wie Komponisten für das Klavier schreiben, Rückschlüsse ziehen auf die Hand, die ein Mensch hatte. Gibt es das auch bei Ihnen, dass Ihr Körper sich sozusagen abdrückt in der Musik, die Sie schreiben?
Bildquelle: picture-alliance/dpa Wolfgang Rihm: Sie nehmen mir sozusagen das Wort aus dem Mund, beziehungsweise aus der Hand. Das sage ich ständig. Wenn man die Griffe nachgreift, die einer für Klavier geschrieben hat, dann hat man viel von seiner Physis verstanden. Wenn Sie beispielswiese Strawinsky in die Hand nehmen, merken Sie, dass seine Hand einen großen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger hatte. Oder wenn Sie bei Brahms die Verschlungenheit der Polyphonie betrachten, merken Sie, dass er sehr elastische Hände hatte, die zum polyphonen Spiel bestens geeignet waren. All diese Eigenarten eines Menschen drücken sich natürlich auch in dem Menschengemachten aus, also auch in der Musik.
BR-KLASSIK: Sie sind ein sehr groß gewachsener Mensch. Was hat das mit Ihrer Musik zu tun?
Wolfgang Rihm: Dass meine Musik nicht ängstlich ist. Vielleicht ist es das. Wobei ich über alle Ängste verfüge, die nötig sind.
BR-KLASSIK: Wovor haben Sie Angst?
Wolfgang Rihm: Das ist eine sehr intime Frage, die ich aber auch beantworten möchte: Das Ausgesetztsein der Physis, das ist schon etwas, was Angst erzeugen kann. Als ich die ersten Herzrhythmusstörungen bekam, war ich sehr ängstlich. Inzwischen weiß ich, dass man damit sehr gut leben kann. Aber wenn Sie so eine medizinische Diagnose bekommen, dann kann das schon Ängstlichkeit hervorrufen.
BR-KLASSIK: Bei Mahler war das ja auch wie ein Axthieb, als er die Diagnose eines Herzfehlers bekommen hat, hat er gesagt. Und bei Schönberg denke ich an das Streichtrio, wo er sogar reinkomponiert hat, wie er Injektionen bekommt.
Wolfgang Rihm: Dieses Pizzicato, ja. Aber so weit wollen wir jetzt doch nicht gehen. Da ist man schnell in einer Art besserer Klatschpresse.
BR-KLASSIK: Klar, die Gefahr ist, dass man dabei nur anekdotisch bleibt. Aber es ist ja bekannt - und wir sind alle sehr froh, dass es nicht so weit gekommen ist, wie viele befürchtet haben -, dass Sie eine sehr schwere Krankheit durchgemacht haben oder durchmachen...
Wolfgang Rihm: Ja, ich habe ja nie ein Hehl draus gemacht. Das ist ein großes Sarkom gewesen, das sich im Oberschenkel über 20 Jahre gebildet hat. Es war erst ein Lipom, dann wurde es mehrfach operiert und bei der letzten Operation hat sich herausgestellt, dass es sich zum Sarkom entwickelt hat. Das ist natürlich eine gefährliche Sache, da muss man was tun. Das heißt, ich musste mich den ganzen Prozessen wie Chemotherapie, Hyperthermie-Behandlung, Bestrahlung etc. aussetzen. Naja, momentan ist es ganz gut im Griff.
BR-KLASSIK: Wir drücken die Daumen!
Wolfgang Rihm: Das tu ich auch. Man weiß es ja nicht. Aber das ist eigentlich nicht der Angst-Auslöser per se. Viel angstbesetzter sind die psychischen Dinge, denen man dann plötzlich ausgesetzt ist. Man weiß dann plötzlich nicht mehr, wie man selber reagiert. Ob das eigene Reagieren auch wirklich noch agierbar ist. Oder ob das nur noch Reflexe sind.
BR-KLASSIK: Sie hatten Angst, nicht mehr so schöpferisch frei und aktiv sein zu können wie früher?
Wolfgang Rihm: Das auch. Verstehen Sie, die künstlerische Arbeit braucht auch eine gewisse physische Robustheit. Bis man den Hiatus überbrückt hat, dieses Klaffende, was immer eintritt zwischen dem, was man will, und dem, was man kann... Wenn man merkt, dass die Physis einfach ihre Ruhe braucht, dann ist das schon schwierig, wenn man nicht so bei der Sache bleiben kann. Denn das Dumme am Kunstmachen ist ja, wie Karl Valentin sagt, dass es viel Arbeit braucht.
BR-KLASSIK: Und Sie brauchen auch viel Ruhe in der letzten Zeit...
Wolfgang Rihm: Naja ich hab mich halt aus vielem rausgehalten. Das heißt, um diese Arbeit tun zu können, mit der ich ja nicht aufhören wollte, habe ich vieles nicht mehr getan. Eine gewisse Präsenz in der Öffentlichkeit habe ich dann einfach nicht mehr geleistet. Das ist aber auch - ich darf das jetzt in Anführungszeichen setzen - etwas sehr "Gesundes". Man konzentriert sich auf die nächste Umgebung, auf das, was erreichbar ist, was nicht unbedingt einer strategischen Vorausplanung bedarf, sondern was einfach kommt oder eben nicht kommt. Dieses Sorglose, das ist dann auf einmal ganz wichtig. Das hilft auch.
BR-KLASSIK: Man sagt ja auch, dass so eine Krankheit einen dazu bringen kann, sich stärker auf das Wesentliche zu konzentrieren. Haben Sie so etwas erlebt?
Wolfgang Rihm: Könnte ich bei mir gar nicht sagen, weil ich zum Unwesentlichen neige im gleichen Maße. (lacht) Wenn ich arbeite, dann ist alles wesentlich, auch das, was von außen her nichtswürdig aussieht. Das ist dann auch wichtig. Aber auch dazu braucht man Kraft.
BR-KLASSIK: Das Wort "Lebenswerk" ist ein Singular. Aber in Wirklichkeit sind es viele, viele Werke. Vielleicht ist der Singular trotzdem angemessen, weil Sie ja sagen, dass das Leben, das sich da ausdrückt, eine Einheit stiftende Kraft ist.
Das Lebenswerk besteht aus Lebenswerken.
Wolfgang Rihm: Ja, Sie haben völlig recht. Das Lebenswerk besteht aus Lebenswerken. Das kann ich gar nicht numerisch gegeneinander ausspielen. Das sind Kraftlinien, klar...
BR-KLASSIK: ... die auch über die Grenzen des einzelnen Werks hinausreichen?
Wolfgang Rihm: ... die bis ins Intimste, bis in die Atmung gehen, bis ins Nervenkostüm.
BR-KLASSIK: Dann gehen wir nochmal zu diesem Leben zurück, das sich im Werk niederschlägt. Gibt es eine Art klangliche Urerfahrung, die die ästhetische Grundrichtung des Menschen Wolfgang Rihm initiiert hat? Vielleicht die Orgel? Oder ein anderes Klangerlebnis aus Ihrer Kindheit, das Sie bis heute prägt?
Wolfgang Rihm: Das macht mich eigentlich stumm, wenn ich jetzt überlege, und es kommt so viel in meinen Sinn, was ich aber nicht werten will ...
BR-KLASSIK: Vielleicht gibt es Urszenen? Der kleine Wolfgang am Klavier, wie er fantasiert?
Wolfgang Rihm: Dazu hätte es erst mal ein Klavier geben müssen! Das Klavier trat erst in die Wohnung, nachdem mein Klavierunterricht beschlossen war. Das war so mit zehn.
BR-KLASSIK: Wer hat den beschlossen?
Wolfgang Rihm: Naja, schon ich.
BR-KLASSIK: Der Wunsch war also schon geweckt. Was hat ihn ausgelöst?
Bildquelle: picture-alliance/dpa Wolfgang Rihm: Das ist schwierig. Ich kann es nicht beantworten. Ich wollte immer Musik machen - aber nicht als Spieler, sondern als derjenige, der die Musik erfindet. Das war von Anfang an da. Sie haben vorhin die Orgel genannt. Das war ein Instrument, an das ich mich immer wieder geflüchtet habe, um zum großen Klang zu kommen, der einem ja als jungem Komponisten nicht zur Verfügung steht. Da hatte ich sozusagen eine Maschine, die auf bestimmte überredende Griffe hin den entsprechenden großen Klang erzeugte. Es war auch sicher so, dass für mich das Singen in einem Chor sehr ausschlaggebend war. Das Mitsingen bei großen Chorwerken war immer wieder eine überwältigende Erfahrung. Zum Beispiel von Debussy "Le Martyre de Saint Sébastien". Oder das Verdi-Requiem, das Berlioz-Requiem... Das war der Karlsruher Oratorienchor. Der wurde damals geleitet von Erich Werner, der ihn auch gegründet hat. Der war Musiklehrer an meinem Gymnasium, dem Bismarck-Gymnasium.
BR-KLASSIK: Wie alt waren Sie, als Sie da 'reingegangen sind?
Wolfgang Rihm: Ich kam sehr früh in den Stimmbruch. Da war ich gerade zwölf. Da hat mich der Musiklehrer gefragt, ob ich mitsingen wolle, weil er gemerkt hat, ich treffe die Töne. Also wurde ich in den Bass gesetzt. Und da war natürlich auch das soziale Miteinander, das viele Reisen. Wir sind 1966 nach Paris gereist, da war ich 14. In der alten Salle Pleyel haben wir das "Magnificat" von Bach aufgeführt, und Charles Münch hat dirigiert.
BR-KLASSIK: Das waren Erfahrungen der Überwältigung?
Wolfgang Rihm: Das waren auch Erfahrungen der Technik. Ich habe als Mitsingender mitbekommen, wie man für Stimmen und für Chor schreibt. Das musste ich mir nicht mühsam durch Lehrbücher beibringen. Das war gespeist aus der Erfahrung des Tonabgebens in einen Zusammenhang hinein.
BR-KLASSIK: Aus dem Leben... Und dann sind Sie nach Hause gegangen und haben sich ans Klavier gesetzt und das umzusetzen versucht?
Wolfgang Rihm: Das ging nicht so einfach. Ich wollte als erstes gleich mal ein großes Chorwerk schreiben mit Orchester. Plötzlich hab ich gemerkt: Das geht ja gar nicht. Ich hab ja gar nicht das entsprechende Notenpapier. (lacht) Das kam alles aus einer Mangelerfahrung. Ich will was tun und merke, ich kann es nicht. Also muss ich mir dieses Können verschaffen. So habe ich es von Anfang an erlebt, dass Können nicht etwas ist, was außerhalb von mir ist. Sondern etwas, das in mir als Wunsch wächst und dann realisiert werden kann. Etwas, das nicht irgendwo in einem Schrank liegt, und ich muss den Schlüssel holen und dann hab ich's. Das sage ich auch immer meinen Schülern. Eine Technik wird erst dadurch, dass ihr sie anwendet, zu dem, was sie ist. Das ist nicht so, dass da eine Technik rumliegt und man verwendet die. Noch immer stellen sich viele Leute vor, dass man so Kunst macht. Dass man Kunstmittel und Techniken lernt und sie dann anwendet. Dann kann man es grad lassen, finde ich.
BR-KLASSIK: Ist das immer noch der Fall? Haben Sie immer noch solche Erfahrungen des Unvermögens? Und fühlen Sie sich dann wieder in diesen Zustand des 14-Jährigen zurückversetzt, dass Sie in sich erst das Mittel finden müssen, das für den Ausdruck passt?
Wolfgang Rihm: Ja. Das ist genau so geblieben. Genau so. Immer wieder. Und das ist auch das, was mich letztlich antreibt, bei der Sache zu bleiben. Eine Erfahrung habe ich gemacht von Anfang an: Wenn ich nachlasse darin, bei der Sache zu bleiben, dann geht sie auch weg. Und dann entsteht gar nichts. Ich muss eine gewisse Halsstarrigkeit, einen Eigensinn im Tun-Wollen an den Tag legen. Dann entsteht auch was.
2009 hat die GEMA den Deutschen Musikautorenpreis ins Leben gerufen. Damit sollen Komponisten und Textdichter der deutschen Musikbranche für ihre herausragenden Leistungen gewürdigt werden. Unter dem Motto "Autoren ehren Autoren" rücken Musikschaffende in den Vordergrund, die oftmals im Schatten der Interpreten stehen. Der diesjährige Deutsche Musikautorenpreis wird bei einer Gala am 14. März in Berlin an die Preisträger überreicht.
Sendung: Leporello am 28. Februar 2019 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK