Bildquelle: Astrid Ackermann/BR
Seit Eugen Jochums Ära beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist die Symphonik Anton Bruckners Chefsache. Zumal zum 200. Geburtstag des revolutionären Romantikers ist es Simon Rattle natürlich ein besonderes Anliegen, die Bruckner-Tradition des BRSO weiter zu pflegen. Im Rahmen der sommerlichen Festivaltournee hatte Rattle mit seinem Orchester bereits die Vierte Sinfonie präsentiert. Jetzt dirigiert er in München den monumentalen Torso der Neunten: Bruckners "Unvollendete". An seinem Lebensende soll Bruckner sein dreisätziges Fragment - halb verzweifelt, halb hoffnungsvoll - "dem lieben Gott" gewidmet haben. Apokalyptische Züge trägt bereits der dicht gearbeitete Kopfsatz, maschinenhaft stampfend kündigt das Scherzo das heraufziehende Industriezeitalter an, und das Schluss-Adagio ballt sich zu unerhört dissonanten Eruptionen, bevor der Satz friedlich und transzendent verklingt. Ein Mysterium ist diese Neunte, die mit ihrer kompositorischen Kühnheit weit in die Zukunft ragt.
Rattle wäre aber nicht Rattle, wenn er dieses grandiose Vermächtnis nicht in einen ausgeklügelten dramaturgischen Kontext stellen würde. So collagiert er im ersten Konzertteil vier Ausnahmewerke, die in einem langen Entwicklungsstrang auf Bruckner hinführen. An den Anfang setzt Rattle ein Schlüsselwerk der Avantgarde, György Ligetis oszillierende Klangflächen-Komposition "Atmosphères" von 1961 mit ihren schwebenden Clustern und zitternden Schraffuren. An dritter Stelle stehen die in ihrer extremen Ausdrucksdichte faszinierenden Orchesterstücke Opus 16 von Anton Webern. Die sechs Miniaturen entstanden 1909 als Reflex auf den Tod seiner Mutter. Der Grundzug ist lyrisch, oft hart an der Hörgrenze, aber Weberns Trauerarbeit spiegelt sich auch in atonalen Schockmomenten und einer erst fahlen, dann schmerzlich aufbegehrenden Marcia funebre. Zwischen die beiden Neutöner setzt Rattle zwei Wagner-Highlights: das silbrig schimmernde "Lohengrin"-Vorspiel und "Vorspiel und Liebestod" aus "Tristan und Isolde". So wird Wagners Einfluss auf Bruckners Schaffen nahtlos hörbar in diesem Konzeptprogramm der Extraklasse.