Musik von Leuten, die sich nichts vorschreiben lassen: Dafür stand von 1969 bis 2011 das Kürzel "FMP". Ausgeschrieben: Free Music Production. Dieses Westberliner Label, das auch ein legendäres Festival veranstaltete, wird jetzt in einer spannenden Ausstellung im Münchner Haus der Kunst gewürdigt.
Bildquelle: © Maximilian Geuter
Es begann kurios: Dunkler Anzug war gefragt. Und sollte vertraglich für alle Bandmitglieder garantiert werden. Der Free-Jazz-Saxofonist Peter Brötzmann aber wollte dies vorsichtshalber nicht unterschreiben - und wurde von den damaligen "Berliner Jazztagen" wieder ausgeladen. Da nahmen er und der Bassist Jost Gebers eben die Sache selber in die Hand und organisierten ein Festival: das erste "Total Music Meeting". Das war 1968. Und schon 1969 gründeten sie das Label "Free Music Production", das Schallplatten von den Konzerten der freigeistigsten und manchmal auch wildesten Musiker der damaligen Zeit veröffentlichte. Beides wurde ein Dauerläufer: Bis 2009 existierte das Festival, das Label produzierte bis 2011. Ein Phänomen des Aufbruchs und der Selbstbestimmung, jetzt nachvollziehbar in einer kulturgeschichtlichen Ausstellung mit sehr vielen Impulsen für die Gegenwart: "FMP: The Living Music".
Richtig eintauchen kann man in die Welt der möglichst freien und radikalen Töne im Haus der Kunst schon gleich im Treppenaufgang: leicht abgedunkelt, voll von vibrierend musikalischer Atmosphäre. Über der Treppe ein in riesiges Format gezogenes Schwarzweiß-Foto von einigen Protagonisten, 1972 im Freien vor spätherbstlich blätterlosen Bäumen und Hochhäusern am Hanseatenweg in Berlin, bei der Akademie der Künste. Ganz links ragt ins Bild der mächtige Schnurrbart und der nachdenklich-ernste Blick Peter Brötzmanns, auf die Kamera gerichtet. Etwas weiter weg: Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach, Evan Parker und Buschi Niebergall, die einen halb weggedreht vom Betrachter, die andern schon im Weggehen. Szene eines Aufbruchs. Avantgardisten machen sich auf, neue Wege für Töne zu finden, die damals gesellschaftlichen Protest, aber auch einfach nur die Sperrigkeit des eigenen, unabhängigen Willens signalisierten. Und einige dieser Töne hört man auch schon in diesem Treppenhaus, etwa gar nicht so wilde, eher versonnene von Trompeter Manfred Schoof - und man kann sich gleich auf einer Sitzgelegenheit niederlassen, um sich ein Video mit Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra anzuschauen.
Da ist man schon mitten im Geschehen, spürt die Vitalität einer Musik, die sich nicht fassen und institutionalisieren ließ, aber mit immenser Energie sofort Statements setzte. Und kommt man dann oben in den Ausstellungsräumen an, weicht das fesselnde Ungestüm dieser Anders-Tönenden erst einmal einer Art akademischer Nüchternheit. Ein auf fast vier Meter hochgezogenes frühes Veranstaltungsplakat in Farbstrukturen in Rosa und Weiß mit sachlichem Hinweis in Dunkelgrau: "Total Music Meeting Berlin‚ 68, 7.-10. November". Man dreht sich, schaut hier, schaut dort, hört Töne von links, von rechts, aus allen Richtungen. Kann Stationen erwandern, sich versetzt fühlen in einen der Räume, in denen in der Westberliner Akademie der Künste seit 1969 die "Workshops Freie Musik" stattfanden, spürt in zweien von ihnen sogar so etwas wie Konzertatmosphäre - wenn etwa auf ganz großer Projektionsfläche eine Fernsehaufzeichnung von 1974 gezeigt wird, in der Peter Brötzmann - schon wieder der, aber er ist eben auch eine der herausragenden Figuren - mit trötendem Saxofon die Melodie des "Einheitsfrontlieds" von Hanns Eisler schmettert. Und an anderer Stelle zieht ein Schwarzweiß-Foto von auf dem Boden kauernden Zuhörern von 1970 einen soghaft hinein in diese Art von musikalischem Gemeinschaftserlebnis: dem nicht auf bequemen Polstern stattfindenden Entdecken von Klangdimensionen, die man vorher gar nicht kennen kann.
Wandelnd in einer anderen Zeit vorbeischauen - das ist ein besonderer Reiz dieser Ausstellung. Ein anderer: die kleinen Überraschungen. Von oben kommen da plötzlich in einem der Räume Töne. Es sind die in ganz eigenen Sphären knarzenden Klänge des Bassisten Peter Kowald. Während man großformatige Bilder und Filmdokumente anschaut, von einer Wand zur nächsten schlendert, ist da plötzlich direkt über dem Kopf eine Klangquelle. Da dringen aus einer Kunststoffglocke mit Lautsprecher, die wie eine Lampe herabhängt, plötzlich die faszinierend murmelnden Kontrabass-Monologe dieses aufregenden Musikers heraus, der 1944 in Deutschland geboren wurde und 2002 in New York starb. Klänge kommen in dieser Ausstellung aus allen Ecken, und nicht nur aus denen - und immer sind es unvorhersagbare. Und das also brachte eine Gruppe von Leuten zuwege, die sich von 1972 an "Kooperative von Jazzmusikern auf Gesellschafterbasis" nannten: trockene Worte für eine Klangwelt voller überschäumendem Leben.
Sehr wild können die Töne sein, ungestüm, beinahe brutal. Wie etwa in "Machine Gun", der vermutlich bekanntesten Veröffentlichung des Labels FMP. Sounds, abermals von Brötzmann, die ausströmten, um abgelagerte Erwartungen aus den Ohren zu fegen. Aber es gibt auch ganz leise Töne, etwa immer wieder von Kowald. Oder manchmal auch von dem Musiker, dem 1988 ein Großereignis gewidmet war. Damals gab der amerikanische Pianist Cecil Taylor einen Monat lang Konzerte mit diversen europäischen Kollegen, wie etwa Günter Baby Sommer, Schlagzeug-Derwisch aus der DDR, oder dem Drummer Tony Oxley aus England (mit dem Taylor heute noch zusammenspielt). Die damalige Box von elf Schallplatten, einst eine Sensation und längst vergriffen (im Internet wird die Box zurzeit für 1.500 Dollar gehandelt und steigt vermutlich wöchentlich im Preis), kann man hier bewundern - und in eindrucksvoll das quirlige Bühnengeschehen wiedergebenden Fotos und einem Filmausschnitt die Zeitreise in dieses bedeutende Jahr der improvisierten Avantgardemusik unternehmen.
Und natürlich gibt es auch eine Würdigung der Tonträger des Labels. Man kann an etlichen bunt-bizarren, künstlerisch markant gestalteten LP-Hüllen vorüberschreiten, die nicht selten einen kantig-kauzigen Humor aufwiesen. In Nischen kann man Kopfhörer überstülpen und sich in einige von mehreren hundert Produktionen vertiefen. "Messer", "Pearls" oder auch "Ein halber Hund kann nicht pinkeln" lauteten die Titel der Platten. Wahlweise auch "New Movements" oder "The Old Song".
Spannend wird es auch, wenn man an einigen Stellen etwas näher hinschaut, ins Kleingedruckte geht. Und in einer Vitrine etwa kann man dann Fundstücke wie einen Vertrag mit dem Rundfunk der DDR aus dem Jahr 1973 zur Überlassung von Free-Jazz-Aufnahmen Zeile für Zeile nachlesen. Und gleich daneben liegt ein weiterer Vertrag, diesmal zwischen der FMP und der "VEB Deutsche Schallplatten DDR" zu einem zugleich mitgeschnittenen Konzert der "Ulrich Gumpert Work-Shop-Band" im März 1979 in "Berlin (West)" - und dem schönen Paragrafen, der besagt, dass "DS" (Deutsche Schallplatten) berechtigt sei, die Aufnahmen in folgende Länder zu vertreiben: "Deutsche Demokratische Republik, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Volksrepublik Albanien, Ungarische Volksrepublik, Volksrepublik China, Tschechoslowakische Sozialistische Republik, Volksrepublik Polen, Sozialistische Republik Rumänien, Volksrepublik Bulgarien, Republik Kuba". Regime gehen, Töne bleiben.
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Poster: The European Jazz Avantgarde is on FMP Records | Bildquelle: © Ute Klophaus
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Installationsansicht Haus der Kunst | Bildquelle: © Maximilian Geuter
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Installationsansicht Haus der Kunst | Bildquelle: © Maximilian Geuter
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Poster: Total Music Meeting 1972 | Bildquelle: © Design: Peter Bröttzmann
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Poster: Workshop Freie Musik 1977 | Bildquelle: © Design: Peter Brötzmann
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Sven Åke Johansson, Alexander von Schlippenbach, Berlin 1976 | Bildquelle: © Dagmar Gebers/FMP-Publishing
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Cecil Taylor: p, Günter „Baby“ Sommer: dr, Improvised Music II, 1988 | Bildquelle: © Dagmar Gebers/FMP-Publishing
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Africa Djolé, Workshop Freie Musik 1984 | Bildquelle: © Dagmar Gebers/FMP-Publishing
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Peter Kowald, A.R. Penck, Workshop Freie Musik 1984 | Bildquelle: © Dagmar Gebers/FMP-Publishing
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Joelle Léandre, Total Music Meeting 1988
Bildquelle: © Dagmar Gebers/FMP-Publishing
Die Free Music Production arbeitete schon früh daran, Grenzen zu überwinden und pflegte einen Austausch mit damals führenden Musikern des zeitgenössischen Jazz aus der DDR, vor allem jenem Kreis um Saxofonist Ernst-Ludwig Petrowsky, Pianist Ulrich Gumpert, Schlagzeuger Günter Baby Sommer und Posaunist Conny Bauer. Nicht zuletzt wegen solcher Leistungen, aber auch wegen der über Jahrzehnte hinweg ungebrochenen Ausstrahlung der Musik aus dem FMP-Umfeld, hängt Markus Müller, Kurator der Ausstellung, den Gegenstand ganz hoch: "Die FMP ist der wichtigste kunst- und kulturpolitische Beitrag Westberlins zum 20. Jahrhundert", sagt er. Und Okwi Enwezor, Direktor des Hauses der Kunst, ergänzt im Gespräch mit BR-KLASSIK, dass diese Musik für ihn "absolut zeitgenössisch" als Raum für subjektiven Freiheitsausdruck sei - und verweist auch darauf, dass sie einst den Punk-Rock inspiriert habe. In der Tat ist diese "Free Music Production" nicht nur Legende und museumstauglich Vergangenes, sondern ein Phänomen, das in die Gegenwart wirkt. Wiederveröffentlichungen durch andere Labels und nicht zuletzt eine große Resonanz in den USA zeigen das. Und das Selbst-in-die-Hand-nehmen von Tonträger-Produktion und Konzert-Präsentation einer Musik, die nicht tauglich für den Markt-Mainstream ist, ist etwas, was die FMP-Initiatoren einst der heutigen Zeit vorwegnahmen.
Vielfältig sind die Facetten, die man hier entdecken kann. Nicht nur bärtige Männer übrigens, um 1968 die vorherrschende Gruppe in dieser Art Kultur, kann man in dieser Ausstellung auf Bildern sehen, sondern auch die "Feminist Improvising Group" von Jazzerinnen wie etwa Sängerin Maggie Nicols und Fagottistin Lindsay Cooper - oder auch der Schweizer Pianistin Irène Schweitzer. FMP hat konsequent auch herausragende Frauen der frei improvisierten Musik präsentiert. Dennoch stellt man hier in vielen Räumen fest, dass die Welt dieser Töne Jahrzehnte lang stark männerdominiert war. Es dauerte übrigens bis 2016, bis das "Jazzfest Berlin" (die Veranstaltung, die früher "Berliner Jazztage" hieß und durch das Anzuggebot Peter Brötzmann und Jost Gebers einst den Impuls fürs "Total Music Meeting" gab) in ihrer aktuellen Ausgabe gleich viele von Frauen wie von Männern geleitete Bands präsentierte.
Zu dieser Musik konnte man nicht Ho Chi Minh brüllen. Dazu braucht man andere Musik.
Musik eines Aufbruchs. Späte Sechziger: Revolte, auch in Tönen. Wie stark hängt diese Musik mit dem politischen Aufbegehren der 68er zusammen? Dazu meint FMP-Gründer Jost Gebers bei der Eröffnung der Ausstellung im Interview mit BR-KLASSIK: "Ich seh da gerade Bilder von 1968 im Fernsehen. Es war tatsächlich so, dass damals Leute in unsere Konzerte kamen und dann ganz schnell wieder gingen - zu dieser Musik konnte man nicht Ho Chi Minh brüllen. Dazu braucht man andere Musik."
Töne, die fordern. Töne, die überraschen. Die vielfältiger sind, als man zumeist glaubt. Und von denen so manche - nicht nur die von Cecil Taylor 1988 und Brötzmanns "Machine Gun - Kultstatus erlangten. Alles in allem: Töne von Leuten, die sich nicht vereinnahmen lassen. Aktueller könnte ein Thema gar nicht sein. "The Living Music": Der Titel dieser Ausstellung, die bis zum 20. August 2017 läuft, ist nicht zu hoch gegriffen.
Die Ausstellung "FMP: The Living Music" läuft vom 10. März bis 20. August in München.
Ort: Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1
Am Freitag, 5. Mai, und Samstag, 6. Mai, finden dort Konzerte der Band "Brötzmann plus" statt, in der unter anderem Saxophonist Peter Brötzmann, Pianist Alexander von Schlippenbach und Trompeter Toshinoro Kondo sowie der junge Drummer und Komponist Michael Wertmüller zu hören sind.