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Der Denker am Saxophon John Coltrane Fünf absolute Must-Have-Platten

Am 23. September 2016 wäre John Coltrane 90 Jahre alt geworden. Der Saxophonist hat den Jazz revolutioniert. Die BR-KLASSIK-Jazzredaktion sagt Ihnen, welche fünf Coletrane-Alben Sie unbedingt hören müssen.

"Giant Steps" (1959/60)

Giant Steps - John Coltrane | Bildquelle: Atlantic Bildquelle: Atlantic Da will es einer wissen! Neue harmonische Wendungen, eine neue Art der Phrasierung, ein neues Tempo, eine neue Form des Ausdrucks. "Giant Steps", Riesenschritte, die machte John Coltrane mit seinem gleichnamigen Album. Nicht nur das Titelstück, das sich durch eine besonders prägnante Harmonik auszeichnet, ist ein Klassiker. Bei "Giant Steps" wechseln die Harmonien in einem von Coltrane entwickelten System in Terz- und Quartschritten. Da geht es rundrum im Quintenzirkel, bis heute beißen sich Jazzmusiker daran regelmäßig die Zähne aus. Pianist Tommy Flanagan, für die Studiosession am 4. und 5. Mai 1959 gebucht, wusste nicht genau, was ihn da erwarten würde. Coltrane legte ihm einen Zettel mit der Akkordfolge aufs Klavier und schon ging es los. Bei Coltranes Solo begleitete der Pianist ganz sparsam, nur die Akkorde, keine überlegten Durchgänge. Das Klaviersolo danach gilt als ein Beispiel für das schönste Scheitern der Jazzgeschichte. Flanagan kommt gerade so durch seine Chorusse. Das ließ den Pianisten nicht mehr los und in den 80er Jahren widmete er Coltrane ein Album, das er sogar "Giant Steps" nannte.
Coltranes Album zwingt einen aber nicht nur zum ehrfürchtigen Kniefall vor der Virtuosität des Saxophonmeisters. Man kann auch mit Gänsehaut zur Ballade "Naima" schwelgen. Die hatte Coltrane für seine damalige Frau Naima geschrieben. Seiner Tochter widmete der Saxophonist "Syeeda's song flute", ein absoluter Groover. "Countdown" beginnt als wahnwitziger Dialog von Tenoraxophon und Schlagzeug. Eine musikalische Perle nach der anderen! Wer "Giant Steps" noch nicht hat, sollte sich mit Riesenschritten in den nächsten Plattenladen aufmachen.

"My favorite things" (1960/61)

My favorite Things - John Coltrane | Bildquelle: Atlantic Bildquelle: Atlantic Könnte fast ein Kinderlied sein: eine anheimelnde Melodie, die vor sich hin zu hüpfen scheint. Ein Walzer, fröhlich und ohrwurmhaft einfach. Das Lied stammt aus dem Musical "The Sound of Music", der Text erzählt von lauter Lieblingsdingen: Regentropfen auf Rosen und cremefarbenen Ponys zum Beispiel. Das Quartett von John Coltrane machte im Oktober 1960 im Studio aus dem Song ein Instrumentalstück von epischer Dimension. Knapp vierzehn Minuten dauert es. Immer noch ein Walzer, die schöne Melodie wird auch wirklich gespielt, aber dann schaukelt sich dieses Stück in einen immer mehr gesteigerten Vorwärtsdrang hinein; das Sopransaxophon zieht mit fast fiepend intensivem Klang immer expressiver werdende Schlangenlinien, das Klavier, gespielt von McCoy Tyner, einem Großmeister kantiger, den Raum öffnender Akkorde, hält dem insistierenden Solisten stoisch-anfeuernd den Rücken frei, und Bass und Schlagzeug (Steve Davis und Elvin Jones) weiten spannungsreich den Puls. Ein Hit - das Original selbst und diese alles Gewohnte sprengende Version - auf einer Platte, die schon deswegen jazzhistorische Bedeutung hat. Ein Cole-Porter-Song und zwei Stücke von Gershwin, darunter eine unbändig energiegeladene und ebenfalls episch angelegte Interpretation von "Summertime", aber bieten atemberaubende weitere Facetten eines der größten Jazzmusiker aller Zeiten. Das Album "My favorite things": Seelensound für die Ewigkeit. Viel mehr als nur ein Lieblingsding.

"John Coltrane and Johnny Hartman" (1963)

John Coltrane  and Johnny Hartman | Bildquelle: Impulse! Bildquelle: Impulse! Coltrane, dieser verschrobene Grübler, dieser saxophonistische Denker, zusammen mit einem Sänger? Ein Repertoire aus Liebesliedern? Geht das? Ja, mit einem unbedingt hörenswerten Ergebnis! Der Produzent des "Impulse"-Labels Bob Thiele hatte 1963 die Idee, etwas mit einem Sänger zu machen. Seit zwei Jahren war Coltrane bei diesem Label und er hatte eigentlich absolute künstlerische Freiheit, aber manchmal gab es dann doch Eingriffe der Plattenbosse. In diesem Fall war der Deal: Coltrane durfte den Sänger aussuchen - und er wählte Johnny Hartman. Ein klassisch ausgebildeter Allrounder, der Mitte der 50er Jahre in London lebte und nach seiner Rückkehr in den USA fast vergessen war. Aber Coltrane kannte ihn als Sänger in der Band von Trompeter Dizzy Gillespie und schätzte die warme Baritonstimme Hartmans. Das Repertoire suchten sie gemeinsam im Vorfeld aus, eines der Stücke kam aber sehr spontan hinzu. In seinem Buch "Impulse! – Das Label, das Coltrane schuf" beschreibt Autor Ashley Kahn Johnny Hartmans Erinnerung an die Fahrt zur Aufnahmesession: "Als wir rausfuhren (ins Studio), hörten wir (...) "Lush Life" im Autoradio. Ich sagte: Das ist ein phantastisches Lied und ich fing an, es im Auto zu singen, obwohl ich nicht den ganzen Text kannte." Die Version des Billy-Strayhorn-Klassikers "Lush life" ist wohl die eindrücklichste, die je gespielt wurde. Die Geschichte von dem jungen Dandy, der seine Existenz in Frage stellt, ist für sich schon ein Meisterwerk. Hartmans brummend-samtiges Vibrato und Coltranes explosive Töne zeichnen perfekt den Kontrast der Glitzerwelt und des Absturzes.

"A Love Supreme" (1964/65)

A Love Supreme - John Coltrane | Bildquelle: Impulse! Bildquelle: Impulse! Kennen Sie die "Goldberg-Variationen" in der Einspielung von Glenn Gould? Oder die Matthäus-Passion, dirigiert von Karl Richter? Karajans Beethoven-Sinfonien oder Abbados Schubert? Oder "Abbey Road" von den Beatles? Alles Jahrhundert-Aufnahmen, legendär, Musik für die Ewigkeit - und genau hier sind wir richtig! "A Love Supreme" von John Coltrane ist ein Jahrhundertwerk. Eine viersätzige Suite, die den Geist des afroamerikanischen Jazz widerspiegelt wie wenig anderes. Coltrane komponierte die Musik im Jahr 1964 für sein sogenanntes "klassisches Quartett" mit Pianist McCoy Tyner, Bassist Jimmy Garrison und Schlagzeuger Elvin Jones. Mit "Acknowlegdement - Resolution - Pursuance - Psalm" sind die Sätze überschrieben. Eine kraftvolle Hymne, ein wütender Ausruf, eine virtuose Explosion und eine Saxophon-Psalmodie. "A Love Supreme" ist ein Schrei gegen die Rassenunterdrückung, es ist eine Hymne für die Freiheit und ein Gebet zu Gott. Ein Werk, über das unendlich viele Worte geschrieben wurden, dem man sich aber nur durchs Hören wirklich annähern kann. Vor kurzem sagte Sir Simon Rattle in einem Interview: "An Beethoven kann man nur scheitern, da man als gewöhnlicher Mensch einem Genie gegenübersteht." Bei "A Love Supreme" ist es ähnlich, aber auf einen Versuch sollte man es ankommen lassen.

"Ascension" (1965)

Ascension - John Coltrane | Bildquelle: Impulse! Bildquelle: Impulse! Ein Mann auf einem Hocker. Ganz leicht nach vorn gebeugt sitzend, ein Gesichtsausdruck, den man nachdenklich finden könnte, mit einem Blick, der in die Ferne und zugleich nach innen zu gehen scheint. Der Mann ist der Saxophonist John Coltrane, zu sehen auf der Hülle einer seiner radikalsten und komplexesten Platten. Volle Kraftentfaltung einer groß besetzten Free-Jazz-Gruppe: Musik, die quietscht und röhrt, sich ballt und spreizt, mit wilden, wie durcheinander laufenden Stimmen. Aber auch eine Musik, die wie eine zum Tosen gebrachte Innenschau wirkt. Töne wie ein wirbelnder Bewusstseinsstrom. Immerzu. Immer weiter. "Ascension" bedeutet Aufstieg, Himmelfahrt. Und man merkt schnell, dass diese entfesselten Töne eine spirituelle Dimension haben: ein wildes Auffahren ins Immaterielle, sich Auflösende. Die elf Musiker, darunter neben John Coltrane die Tenorsaxophonisten-Kollegen Archie Shepp und Pharoah Sanders, der Trompeter Freddie Hubbard, der Pianist McCoy Tyner, der Bassist Jimmy Garrison und der Schlagzeuger Elvin Jones, bewegen sich harmonisch völlig frei, zerbröseln einstige Klangkonventionen und entwickeln gemeinsam einen immensen Schub. Kein locker genießbares Vergnügen, diese Jazzplatte, aber ein überwältigendes Hörerlebnis - und das gilt auch über 50 Jahre nach Entstehen dieser Aufnahme.

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