Aus New York kommt eine Nachricht, die die Fans von Keith Jarrett, für viele der größte Klavier-Improvisator unserer Zeit, traurig stimmt: Der vor wenigen Monaten 75 Jahre alt gewordene Musiker wird aus gesundheitlichen Gründen wohl nie wieder auftreten.
Bildquelle: Woong Chul An
Die "New York Times" meldete gestern, dass der Pianist Keith Jarrett sich auf eine "Zukunft ohne Klavier" einstelle. Online brachte das weltweit renommierte Blatt eine gekürzte Vorab-Fassung eines ausführlichen Textes, der am Wochenende gedruckt erscheinen soll. Darin wird der am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geborene Musiker mit Aussagen zu seinem Gesundheitszustand zitiert, der es unwahrscheinlich mache, dass Jarrett je wieder auftrete. Vor wenigen Tagen habe er dem Jazz-Buchautor und New-York-Times-Journalisten Nate Chinen am Telefon von zwei Schlaganfällen berichtet: Den einen habe Jarrett bereits im Februar 2018 erlitten, den anderen im Mai desselben Jahres.
Laut der Zeitung sagte Jarrett: "Ich war gelähmt. Meine linke Seite ist immer noch partiell gelähmt. Ich kann es wagen, mit Hilfe eines Stocks zu gehen, aber bis es soweit war, dauerte es lange, ein Jahr oder mehr. Ich kann mich nur sehr schwer in meinem Haus bewegen." Anfangs habe Jarrett die Heftigkeit gerade des ersten Schlaganfalls unterschätzt - bis die Symptome immer stärker wurden. "Das ging wirklich schleichend", zitiert der New-York-Times-Autor ihn. Fast zwei Jahre verbrachte Jarrett in einer Pflegeeinrichtung. Dort, in einem Raum mit einem Klavier, habe Jarrett Klavier-Übungen nur mit der nicht betroffenen rechten Hand gemacht; er habe versucht, sich vorzumachen, er sei "Bach mit nur einer Hand". Und als er vor kurzem einige ihm sehr vertraute Jazz-Stücke aus der Bebop-Ära in seinem Home-Studio an seinem Wohnort in New Jersey spielen wollte, habe er festgestellt, dass er sie vergessen hatte. Die Interview-Auszüge münden in der drastischen Aussage: "Das Größte, was ich von einer Erholung meiner linken Hand im Moment erwarten kann, ist vermutlich die Fähigkeit, mit ihr eine Tasse zu halten. Das hat nichts mehr von: 'Schießen Sie auf den Pianisten?' Auf mich wurde bereits geschossen." Nate Chinen zitiert Jarrett am Ende dieser Aussage noch mit einem bitter gehauchten Lachen.
Jarretts eigenes Fazit: "Ich kann nur noch mit der rechten Hand spielen - das überzeugt mich nicht".
Pianist Keith Jarrett in den 70er Jahren. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Keith Jarrett ist berühmt für seine Marathon-Improvisationen: Konzerte, in denen er schier rauschhaft Melodien an Melodien und Rhythmen an Rhythmen reihte, den Körper ekstatisch hinter der Tastatur wand und krümmte und das Publikum regelmäßig ins genussreiche Fieber des Entdeckens noch unbekannter Tonfolgen hineinsaugte. Sein 1975 aufgenommenes, auf langen Improvisationen beruhendes "Köln Concert" ist mit über 3 Millionen Exemplaren die meistverkaufte Klavier-Solo-Platte aller Genres. Seit 1972 hat der Amerikaner mit europäischen Vorfahren mit durchimprovisierten Solo-Konzerten auf sich aufmerksam gemacht. Viele seiner spontanen Klavierschöpfungen haben Teile, die nonstop über 40 Minuten dauern: Keith Jarrett etablierte sich als der Meister eines schier unermüdlichen Klangflusses.
Der wurde allerdings bereits in den späten 1990er Jahren unterbrochen: Damals litt Keith Jarrett am sogenannten chronischen Erschöpfungs-Syndrom und trat einige Jahre nicht mehr sowie anschließend nur in vorsichtigen Schritten solo auf. Damals begann er, seine musikalischen Eingebungen mit Pausen zu strukturieren, spielte an einem Abend oft gut ein Dutzend Teilstücke in jeweils unterschiedlichen Stimmungen. Das tat er bis 2016. Aus diesem Jahr (genauer: vom 16. Juli 2016) stammt eine in der Münchner Philharmonie entstandene Aufnahme, die zu seinen stärksten zählt. Laut New York Times datiert der letzte Auftritt Jarretts vom Jahr 2017, als er in der Carnegie Hall das Konzert nicht nur für Musik nutzte, sondern auch für eindringliche politische Ansprachen – in der Anfangszeit des damals neuen amerikanischen Präsidenten.
Jetzt scheint sicher, dass Abende wie der vom Juli 2016 im Münchner Gasteig nicht mehr mit Jarrett erlebt werden können. Mitten in der Corona-Krise hat man sich daran gewöhnt, dass das Erleben von Künstlern in einem Konzertsaal vor möglichst zahlreich vorhandenem Publikum zu den besonders wertvollen Momenten gehört, die man im Moment nur ersehnen, aber nicht mehr an Ort und Stelle erspüren kann. Doch die Corona-Krise ist gekennzeichnet von der Hoffnung auf ihr baldiges Ende. Nimmt man die Aussagen Keith Jarretts gegenüber der "New York Times" beim Wort, glaubt der Pianist nicht daran, dass sich seine gesundheitliche Situation je wieder wesentlich ändern wird.
Versunken in die Musik: Pianist Keith Jarrett | Bildquelle: Henry Leutwyler / ECM Records Das Interview mit dem großen New Yorker Blatt beendet Spekulationen über Jarretts Gesundheitszustand, die schon lange kursierten - spätestens seit der Pianist das für September 2018 angesetzte Konzert zur Verleihung des Goldenen Löwen von Vendig für sein Lebenswerk absagen musste. Jetzt hat Jarrett selbst die Spekulationen beendet. Der Artikel in der New York Times erscheint zu einem pointierten Zeitpunkt. Denn in wenigen Tagen, am 30. Oktober, wird eine Doppel-CD mit einem weiteren Konzert Jarretts aus dem Jahr 2016 erscheinen: Das "Budapest Concert" (ECM 2700/2701), aufgenommen am 3. Juli 2016 in der Béla-Bartók-Konzerthalle. Ein stenger, ernster, etwas düsterer und vor allem mit immenser Energie beginnender, zunächst wirbelnd atonaler Anfang mündet in der zweiten Hälfte dieses Konzerts in eine Stimmung, die immer gelöster wird - und die berückende Melodien enthält, wie sie manche Fans von Jarrett besonders schätzen.
Jarrett sagte gegenüber Nate Chinen, dieses Konzert sei das beste der damaligen Tournee gewesen - was der Künstler auf ein außergewöhnlich aufmerksames Publikum zurückführt. Dem Publikum, das 13 Tage später in der Münchner Philharmonie anwesend war, wird es vielleicht schwerfallen, dem zuzustimmen - da viele, die diesen Abend miterlebt haben, ihn für eine fast unüberbietbare Sternstunde hielten. Doch das dürfte im Augenblick ein eher geringfügiges Problem für Verehrer dieses ungewöhnlichen Musikers sein, der mit Jazz und klassischer Musik eine eigene Klangwelt geschaffen hat. Diese Welt scheint nun zu Ende geformt. Wohl nur noch aus der Konserve können neue Jarrett-Ereignisse kommen.
Jazztime, 27. Oktober 2020: News & Roots
Das "Budapest Concert" und die Nachricht eines möglichen Verstummens: Pianist Keith Jarrett, einer der größten Improvisatoren der letzten fünf Jahrzehnte, sieht aus gesundheitlichen Gründen für sich am Klavier keine Zukunft mehr. Ausschnitte aus seiner jüngsten Veröffentlichung, die am 30. Oktober erscheint.
Moderation und Auswahl: Roland Spiegel
Kommentare (1)
Donnerstag, 22.Oktober, 17:25 Uhr
Martin Ehrl
Beste Wünsche....
Ich habe das Konzert am 16.07.2016 miterleben dürfen. Es war einer der beeindruckendsten
Sternstunden meiner bisherigen musikalischen Erlebnisse. Mich stimmt der Schicksalsschlag von Keith Jarrett sehr traurig und wünsche ihm viel Kraft und gute Erholung.
Herzlichst Martin Ehrl