Russische Musik ist in der Ukraine derzeit verboten, gemeinsame Solidaritsauftritte von Künstlerinnen und Künstler beider Länder sind unerwünscht. Der Krieg hat auch die Musik politisiert. Ein russischer und ein ukrainischer Komponist treten trotzdem gemeinsam auf.
Bildquelle: © LvivMozArt / Harald Hoffmann
Der 40-jährige Maxim Kolomiiets stammt aus Kiew. Dort hat er zunächst Oboe am Peter Tschaikowsky-Konservatorium studiert, danach Komposition. Allerdings sei es schwierig, in Kiew von der Komponistentätigkeit zu leben, erzählt er. Denn es gebe den Beruf des Komponisten nicht offiziell, man könne damit kaum Geld verdienen, auch Aufträge und Tantiemen gebe es keine. 2007 gründete Kolomiiets das Kiewer Ensemble "Nostri Temporis" für zeitgenössische Musik. Als er neue Werke für das Ensemble suchte, lernte er den russisch- deutschen Komponisten Serge Newski kennen und eine jahrelange Freundschaft entwickelte sich: "Wir haben uns in Moskau kennengelernt, wir spielten sein Trio – und damals einen Moskauer Komponisten zu spielen war ein unglaublich hohes Niveau für uns, wenn man das mit der Musiksituation in Kiew verglich."
Sergej Newski, 1972 in Moskau geboren, ging nach seiner Ausbildung am Peter Tschaikowsky-Konservatorium in Moskau 1994 nach Deutschland, studierte Komposition bei Jörg Herchet an der Hochschule für Musik in Dresden und bei Friedrich Goldmann an der Universität der Künste in Berlin. Schnell wurde er bekannt, seine Werke wurden von bedeutenden Festivals der zeitgenössischen Musik aufgeführt, Newski erhielt Kompositionsaufträge u. a. von der Staatsoper Stuttgart, der Berliner Staatsoper Unter den Linden, der Ruhrtriennale, dem SWR-Symponieorchester sowie dem Klangforum Wien.
Bildquelle: © Harald Hoffmann Seit 2005 war Sergej Newski dann zunehmend in Russland als Komponist tätig. Dort erblühte eine moderne, weltoffene Kunstszene, unterstützt aus Regierungskreisen. Eine Situation, die sich heute fast unglaubwürdig anhört, erzählt Sergej Newski: "Der damalige Kultusminister, Herr Schwydkoi, sagte, dass zu Russlands Identität nicht nur Ikonen oder Matrioschkas gehören, sondern ebenso Malevitsch. Dass die Avantgarde zur Identität Russlands gehört, war der wichtige Standpunkt der Kulturpolitik damals. Das wurde bis 2012 so gehalten, bis der Staat verstanden hatte, dass die Künstler, die auch viel Geld vom Staat bekommen haben, nicht auf Putins Seite stehen. Und dann kam ein Cancelling von fortschrittlich denkenden Künstlern in Russland."
Auch die Avantgarde gehört zur Identität Russlands
Ab 2012, als Wladimir Putin trotz massiver Proteste der Opposition zum dritten Mal Präsident wurde und vor allem seit der Krim-Annexion im Jahr 2014, hat sich die Situation in Russland zu verändern begonnen. In den letzten zwanzig Jahren gab es zwar zwischen Russland und Westeuropa einen intensiven Austausch, der die russische Gesellschaft geprägt habe. Aber er reichte nicht aus: "Das Problem war, dass an der Spitze des Landes trotzdem komische Sowjet- Rentner standen, die versucht hatten, so brutal wie möglich, das Land in die Gegenrichtung zu ziehen", erklärt es Sergej Newski. "Und die Tragödie, die wir heute erleben, dieser furchtbare Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat, ist eine der Folgen dieses rückständigen Denkens von Leuten, die an der Spitze des Landes stehen."
Wir lebten in einer Musik-Bubble
Bildquelle: © Dan Purzhash Auch Maxim Kolomiiets hat diese Veränderung wahrgenommen. Der Ukrainer hat trotz der Krim-Annexion 2014 seine Kontakte mit russischen Komponisten und Musikern aufrechterhalten. Allein deswegen, weil er da viele gute Freunde hat, die die Ukraine immer unterstützt haben und gegen Putins Expansion und Unterdrückung waren. "Ich habe dann im Nachhinein begriffen, dass wir in einer Musik-Bubble lebten. Meine Kollegen in Moskau blieben auch nach dem Jahr 2014 absolut dieselben. Nur sehr wenige Bekannte wurden plötzlich zu Putinanhängern, die meisten haben immer die Ukraine unterstützt. Und lange glaubte ich, dass die meisten Russen so sind."
Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat Maxim Kolomiiets in Kiew getroffen. Wie die meisten Ukrainer, hatte er bis zum letzten Moment nicht glauben können, dass Russland sein Land angreifen würde. Maxim Kolomiiets lebt derzeit in Deutschland. Er kam nicht als Flüchtling, sondern dank des Erlasses von Präsident Selenskij, der kulturelle Diplomatie unterstützt und ukrainischen Musiker*innen die Ausreise erlaubt, um ukrainische Kunst in der Welt zu vertreten. Kolomiiets wurde für ein Projekt in Leipzig eingeladen. Am 23. Oktober dieses Jahres wird in Heidelberg ein Werk von ihm und eines auch von Sergej Newski uraufgeführt. Eigentlich ist ein gemeinsames Auftreten von russischen und ukrainischen Künstlern seitens der ukrainischen Regierung unerwünscht. Seit dem 7.Oktober dürfen in der Ukraine keine Werke russischer Komponisten gespielt werden.
Es wird kein Vakuum entstehen, wenn keine russische Musik in der Ukraine gespielt wird.
Maxim Kolomiiets versteht, warum die Ukraine so reagiert: "Ich unterstützte diese Entscheidung, in der jetzigen ukrainischen Situation kann man keine liberalen Maßstäbe anwenden. Es ist nicht egal, dass diese Musik aus Russland kommt! In der Ukraine gab es lange Zeit gar keinen Platz für die ukrainische Kultur, dafür viel zu viel Platz für die russische. Es wird kein Vakuum entstehen, wenn keine russische Musik in der Ukraine gespielt wird – wir schalten auf europäische Musik um, die wir kaum kennen, und in deren Kontext wir nicht eingeschlossen sind."
Trotzdem ist Kolomiiets für ein genaueres Differenzieren: Wem würde es nützen, wenn ukrainische Musiker aus Protest gar nicht mehr spielen würden? Außerdem gebe es viele russische Musiker mit einer pro-ukrainischen Position – wie sein Freund Sergej Newski. Beide Komponisten sind sich sicher: es wird ein Miteinander der russischen und ukrainischen Künstler und Künstlerinnen geben. Allerdings erst, nachdem Russland den Krieg beenden, seine Truppen aus den besetzten Gebieten zurückziehen und Strafen und Reparationen für die Zerstörung der Ukraine bezahlen wird.