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Musikerinnen auf der Flucht Die Macht der Musik im Ukraine-Krieg

Unzählige Musikerinnen aus der Ukraine sind auf der Flucht. Zurück lassen sie eine große Szene für klassische Musik und Volksmusik mit mehr als 400 privaten und öffentlichen Theatern. In Deutschland erzählen von ihrer Kultur, die jetzt wichtier ist denn je.

Das Lied war für Kleinrussland alles: sowohl Poesie als auch Geschichte und ein Grabmal der Väter.
Nikolai Gogol

Turbulente Vergangenheit

Oxana Stebelska (Sängerin, Geigerin) - Ukraine | Bildquelle: © Vitalii Zaporozhets Die ukrainische Sängerin Oksana Stebelska | Bildquelle: © Vitalii Zaporozhets Kleinrussland – so hieß die Ukraine im 19. Jahrhundert. Ein Land mit einer turbulenten Geschichte. Das Fürstentum "Kiewer Rus", bis 1240 die gemeinsame Wiege für die russische, belarussische und ukrainische Kultur, wurde von den Mongolen vernichtet. Ab dem 14. Jahrhundert gehörte der größte Teil der heutigen Ukraine zum litauischen Großfürstentum, später zum polnischen Königreich. 1654 wurde die Ukraine mit Russland vereint – damit begann die Russifizierung. Der erste ukrainische Staat entstand 1919 durch die Bildung der ukrainischen SSR. 1939, im Zuge des Molotow-Ribentropp-Paktes, annektierte die Sowjetunion westliche Gebiete wie Galizien und Bessarabien, die vorher zur K.u.K Monarchie und danach zu Polen bzw. Rumänien gehörten. Stalin schlug diese Gebiete der sowjetischen Ukraine zu, 1954 übergab Nikita Chruschow die Halbinsel Krim der Ukraine. In diesen Grenzen existierte die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991 bis zur Annexion der Krim und Teilen vom Donbass durch Putins Truppen 2014.

Die Lieder der Freiheitskämpfer

"Während der Sowjetzeit machte meine Großmutter schnell alle Türen und Fensterläden zu, wenn man Großvater anfing, die Lieder der Aufständler zu singen, dass es ja niemand hörte", erinnert sich die ukrainische Sängerin Oxana Stebelskas. "Damals konnte man für diese konterrevolutionäre Lieder verhaftet werden." Die Familie der Sängerin stammt aus jener Gegend nahe Lemberg, die erst seit 1939 zur Ukraine gehört. Bis 1956 kämpften die so genannten "Aufständler" unter dem ukrainischen Nationalistenführer Stepan Bandera gegen die sowjetischen Besatzer. Dieser Widerstand wurde brutal niedergeschlagen, tausende Westukrainer wurden nach Sibirien verbannt – darunter auch Oxanas Großeltern. Ihre Lieder haben aber alle Repressalien überlebt.

Unsere Vokalmusik ist sehr farbenreich und sehr unterschiedlich.
Oxana Stebelska, ukrainische Sängerin

Ukrainische Musik als Kraftquelle

Oxana Stebelska | Bildquelle: © Oxana Stebelska Mit Beginn des Krieges ist die Sängerin Oksana Stebelska mit ihren Töchtern nach Deutschland geflohen. | Bildquelle: © Oxana Stebelska Oxana Stebelska hat 1990 ihr Ensemble "Ukrainski Barvi – ukrainische Farben" gegründet und mehrmals die Musik ihres Heimatlandes überall auf der Welt vorgestellt. Ihr Erfolgsrezept: der Mix aus traditionellen Volksmusikinstrumenten mit modernen Rhythmen. Auch die diesjährigen Sieger des Eurovision Songcontest in Turin, das Kalush Orchester aus der Ukraine, haben bei ihrer Komposition "Stefania" ukrainische Volksmusikinstrumente in Kombination mit Rap benutzt. Ihren Auftritt verfolgte Oxana Stebelska von Deutschland aus, wohin sie nach dem Überfall Russlands mit ihren Töchtern geflohen ist. Sie organisiert humanitäre Hilfe für die Ukraine, gibt Konzerte zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte und komponiert neue Lieder. "Es gibt so viele neue ukrainische Lieder – über Waffen, über die bewaffneten Drohnen 'Bayraktar'... die Menschen brauchen das einfach!", erklärt sie. Die Kraft dafür gibt ihr die ukrainische Musik selbst. "Die Musik ist einfach immer in mir drin, diese Kampflieder der Aufständler." Nur unmittelbar am Anfang, als der Krieg begann, konnte sie keine Musik hören.

Jeder laute Klang erinnerte mich an die Bomben.
Oxana Stebelska

Bandura gegen den Krieg

Natalia Holodenko - Bandura (Ukraine) | Bildquelle: © Natalia Holodenko Die Ukrainerin Natalia Holodenko spielt eines der bekanntesten ukrainischen Musikinstrumente: Bandura. | Bildquelle: © Natalia Holodenko Auch die Psychologin und Banduraspielerin Natalia Holodenko ist vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. Die Bandura ist eines der bekanntesten ukrainischen Musikinstrumente. Sie hat eine Holzdecke mit 25 bis zu 60 Saiten, die gezupft werden. Dazu wird gesungen. Traditionell waren es Duma-Lieder – epische, von patriotischem Pathos getragene Heldengesänge. Jahrelang hatte sie ihr Instrument nicht angerührt, sagt Natalia Holodenko. Doch gerade heute ist es ihr wichtig geworden, wieder Bandura zu spielen – hier in Deutschland. "Wir sind in so einer schwierigen Situation – in dem Moment, wo man sein Haus, seine Heimat, das Recht, man selbst zu sein, verliert, besinnt man sich wieder stärker auf seine eigene Kultur und Herkunft."

Ich möchte jeden Deutschen umarmen und Danke für ihre Unterstützung sagen.
Natalia Holodenko, ukrainische Banduraspielerin

Mit zwei Geigen auf der Flucht

Olga Babiy - Ukraine | Bildquelle: © Olga Babiy Auf der Flucht nach Deutschland hat die Geigerin Olga Babiy ihre beiden Geigen mitgenommen. | Bildquelle: © Olga Babiy Die Geigerin Olga Babiy stammt aus Charkiw, der russischsten aller ukrainischen Städte. Ihr Traum war immer, auf der Geige Werke spielen zu können, die nicht für die Violine geschrieben waren. Zum Beispiel träumte sie davon, Liszt auf der Geige zu spielen – und hat sogar einige Arrangements selber verfasst. Dann entdeckte sie ukrainische Lieder. 50 von ihnen hat sie mittlerweile bearbeitet. Sie spielte sie auf dem Maidan in Charkiw und vor ukrainischen Soldaten, die gegen die russischen Separatisten in Donezk kämpften. Auch am 24. Februar 2022 sollte sie so ein Konzert an der ukrainischen Grenze geben – stattdessen musste sie sich vor den russischen Bomben im Keller verstecken. Als sie es einmal nicht rechtzeitig in den Schutzkeller schaffte und eine Bombe zwanzig Meter von ihr entfernt explodierte, hat sich Olga entschieden, ins sichere Deutschland zu gehen. Der Weg von Charkiw nach München mit dem Zug war lang und beschwerlich.

Sie erzählt: "Ich nahm zwei Geigen und zwei Rucksäcke und fuhr mit meinem Fahrrad los. Die Straßen waren total leer, überall lag Schnee und Eis. Ich bin auch ein paar Mal gestürzt, die Schuhe waren völlig durchnässt. Ich kam als letzte in den Waggon. In jedem Abteil waren mindestens zehn Menschen, auch in den Gängen saßen alle ganz eng beieinander. Ich habe auf meinem Geigenkasten gesessen, er hat es leider nicht ausgehalten und ich habe meine Geige zerquetscht. Aber zum Glück fand man hier in München einen japanischen Geigenbaumeister für mich, der mir das Instrument kostenlos repariert hat. Ich bin ihm dafür sehr dankbar!"

Die Rolle ukrainischer Kultur nach dem Krieg

In München arbeitet Olga Babiy weiter an ihren Bearbeitungen ukrainischer Lieder für Geige solo. Oft spielt sie diese Lieder in der Münchener Fußgängerzone. Nicht primär fürs Geld, sondern um die Reaktion des Publikums wahrzunehmen und dementsprechend ihre Arrangements zu verbessern. Doch auch wenn sie sich in München bei ihrer Gastfamilie sehr wohl fühlt, ist ihr sehnlichster Wunsch, zurück in eine friedliche Ukraine zu gehen. "Ich möchte, dass meine Musik dort erklingt. Soldaten brauchen sie, meine Freunde in der ukrainischen Kirche wollen sie hören. Ich denke, nachdem wir gesiegt haben, wird in der Ukraine ein großer Aufbruch der nationalen Identität stattfinden."

Die ukrainische Kultur und ukrainische Musik werden eine nie da gewesene Rolle spielen.
Olga Babiy, ukrainische Geigerin

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Am Samstag, den 21. Mai, um 23:05 Uhr, in der 'Musik der Welt' oder jetzt schon online.

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