Er führte das Vibraphon in den Bebop ein und erlangte im Modern Jazz Quartet weltweite Geltung. Milt Jackson war der Musiker mit dem wärmsten Sound, der dem metallischen Instrument je entlockt wurde. Am 1. Januar wäre er 100 Jahre alt geworden.
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Vor Milt Jackson gab es nur zwei bedeutende Meister des Vibraphons im Jazz. Lionel Hampton, der vom Schlagzeug kam und für seinen perkussiven Stil einen metallischen, schnell vibrierenden Klang schätzte, und Red Norvo, der mit gedämpften Tönen den eher holzigen Sound der Marimba anstrebte. So genial die beiden Improvisatoren auch spielten, so schöpften sie doch nicht alle klanglichen Möglichkeiten des Vibraphons aus.
Erst Milt Jackson verwandelte das Vibraphon zu einem wirklich warm klingenden Melodieinstrument, dem er betörend fließende Linien entlockte. Weil er ursprünglich Gospelsänger war, orientierte er sich am Ideal der menschlichen Stimme. Um das zu erreichen, veränderte er die Schwingungsmechanik des Vibraphons, den Oszillator, indem er die Zahl der Umdrehungen pro Sekunde reduziert. So erfand er einen neuen, eigenen Sound: "Das Vibrato, das ich auf diesem Instrument bekomme, war dem, das ich mit meiner Stimme als Sänger benutzte, sehr ähnlich. Das faszinierte mich, und ich gab das Singen und vier andere Instrumente auf, um mich auf das eine Instrument zu konzentrieren."
Milt Jackson wurde am 1. Januar 1923 in Detroit in eine musikalische, kinderreiche Familie hineingeboren und lernte Gitarre und Klavier, die Instrumente seines Vaters, sowie Xylophon. Er spielte sie als Jugendlicher in Tanzkapellen, außerdem Schlagzeug, Pauken und Violine in Marschkapellen und Schulorchester. Die Gospelmusik, die er in der Gemeinde seiner tiefgläubigen Mutter kennenlernte, prägte ihn fürs Leben. Zunächst trat er als Tenor mit seinen "Evangelist Singers" auf. Den Unterton des "Preachers" konnte man noch herauszuhören, wenn er in reifen Jahren von seiner Musik sprach: "Hätte man dem Jazz eine faire Chance gegeben, er hätte viel mehr Harmonie zwischen den Menschen geschaffen, viel weniger Hass und Feindseligkeit."
Musik ist eine der stärksten Quellen für Beziehungen, vor allem für gute Beziehungen
Jacksons Musik, die das Frohlocken des Gospels mit klanglicher Sanftheit vereint und eine gewisse melodische Süße selbst bei rasenden Bebop-Tempi bewahrte, ist Spiegel seiner Anschauungen: "Diese Musik ist therapeutisch, sie ist heilend, sie ist beruhigend, sie bringt Menschen zusammen, sie reißt Menschen nicht auseinander." Dazu passt, dass seine schwebenden Töne wie durch eine liebevolle Berührung erzeugt erschienen und eher angeblasen als angeschlagen wirkten, obgleich er als Vibraphonist eigentlich ein Perkussionsinstrument spielte.
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Cannonball Adderley and Milt Jackson - Things Are Getting Better
Während seines Studiums an der Michigan State University wurde Milt Jackson zum Militärdienst eingezogen. Aus dieser Zeit stammt sein Spitzname "Bags". Er verdankt ihn den Tränensäcken unter seinen Augen nach einem Trinkgelage, mit dem er seine Entlassung aus der Armee gefeiert hatte, erklärte er einmal. Als wieder freier Mann gründete er die "Four Sharps", ein Quartett in der Besetzung Vibraphon, Gitarre, Klavier und Bass. Der Jazztrompeter Dizzy Gillespie hörte ihn zufällig im Konzert, und weil er ihn 1945 in sein eigenes Quintett holte, gilt er seither als Milt Jacksons "Entdecker". Man muss sich das einmal vorstellen: Dizzy Gillespies Quintett war die Schlüsselformation des Bebop. Mit Saxophonist Charlie Parker und Schlagzeuger Max Roach spielten führende Solisten jener Zeit mit. Und der unbekannte Youngster aus der Provinz war als Erneuerer des Vibraphons nun mitten unter ihnen. "Wir wirkten sehr ausgefallen. Die Leute nannten uns Marsmenschen", erfuhr ich von Ray Brown, der Bassist des Quintetts, sowie langjähriger Freund und zeitweise Manager von Milt Jackson war. Auch im Orchester Gillespies wirkte "Bags" alias Milt Jackson ab 1946 mit. "Es war revolutionäre Musik. Die Leute verstanden nichts davon", erzählte er mir über diese Ära.
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Dizzy Gillespie and his Orchestra, featuring Milt Jackson on vibraharp: "Things to Come" (1946)
Milt Jackson, Ray Brown, John Lewis und Kenny Clarke bildeten bei Gillespie die Rhythmusgruppe, die zur Urform des Modern Jazz Quartet wurde. Mit dem, durch eine Meinungsumfrage ermittelten New Star Award des Magazins "Esquire" gewann Milt Jackson 1947 die erste von vielen Auszeichnungen, die in den kommenden Jahrzehnten noch folgen sollten. 1948 machte er problemlos mit dem als schwierig geltenden, oftmals einsilbigen Pianisten Thelonious Monk Aufnahmen.
Glücklicherweise besaß ich ein absolutes Gehör und ein fotographisches Gedächtnis. So war es für mich sehr einfach, in jede Facette der Musik einzudringen.
Die folgenden Jahrzehnte zeigten, dass "Bags" praktisch mit jedem spielen konnte. Ebenso mühelos wie mit dem kargen, sperrigen Monk arbeitete er mit dessen Antipoden, dem überströmenden Klavier-Virtuosen Oscar Peterson zusammen. Und ebenso wie ihm die unzähligen Töne Petersons recht waren, genügten ihm die sparsamen Einwürfe des Pianisten Count Basies. Die strengen, gezügelten Linien von John Lewis sind ein ebenso passender Konterpart zu Jacksons Improvisationen wie Monty Alexanders extremer Drive oder Wynton Kellys aparte "Funkyness". Nach einer kurzen Zusammenarbeit mit Charlie Parker und zwei Jahren in der Big Band von Woody Herman als Nachfolger des Vibraphonisten Terry Gibbs, schloss sich Milt Jackson wieder Dizzy Gillespie an, dessen Musik publikumsnäher daherkam. Da er bei Gillespie zwei Instrumente, Vibraphon und Klavier, spielte, bat Milt Jackson eines Tages um eine Gehaltserhöhung. Gillespie erwiderte, dass es dann wohl besser sei, wenn "Bags" selbst eine Band leite.
Jackson befolgte Dizzys Ratschlag und gründete 1951 das Milt Jackson Quartet, das auch als "The first Quartet" bekannt wurde mit Pianist John Lewis, Bassist Ray Brown und Schlagzeuger Kenny Clarke. Für Ray Brown, der als Ehemann von Ella Fitzgerald und Partner von Oscar Peterson überbeschäftigt war, kam 1952 der ausgezeichnete Bassist Percy Heath in die Band, die sich ab da Modern Jazz Quartet nannte. 1955 wurde Clarke, der Vater des modernen Schlagzeugspiels, durch den dezenten Connie Kay ersetzt. In der einflussreichen Formation an der Schnittstelle zwischen Cool Jazz, Bebop und Third Stream wurde die Zusammenarbeit zwischen dem Hauptsolisten Milt Jackson und John Lewis, dem Hauptkomponisten und musikalischen Leiter, zu einer der wichtigsten der Jazzgeschichte. Die kammermusikalische Raffinesse und die Eleganz der vier Künstler öffnete dem MJQ in den 1950er Jahren auch die Herzen der Klassikhörer:innen und damit dem Jazz die Konzertsäle. Lewis' Liebe zu barocker und klassischer Musik schimmerte in seinen Kompositionen und Arrangements von Jazzstandards durch, im kontrapunktischen Zusammenspiel der vier Musiker und manchmal im Repertoire, wenn er Stücke von Bach ins Programm nahm. Die Komposition "Django" etwa, John Lewis' "Requiem" für den gerade verstorbenen Gitarristen Django Reinhardt, steht dem Barock näher als dem Gypsy Jazz, vermittelt aber zugleich tiefes Blues-Feeling.
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The Modern Jazz Quartet (1988) Munich
Da John Lewis aus seiner Neigung zur europäischen Klassik nie einen Hehl machte, und seine Kompositionen als prototypisch für den Cool Jazz gilt, werden oft die schwarzen Wurzeln seiner Musik übersehen. Doch John Lewis war auch ein bewegender Blues-Interpret. Und genau hier liegt ein wichtiger Berührungspunkt zu "Bags", einem der kreativsten Blues-Komponisten und Interpreten der Jazzgeschichte. Milt Jackson verfügte über die Gabe, unzählige Variationen des Blues aus seinem lockeren Handgelenk zu schütteln. Sein Meisterstück ist freilich "Bags’ Groove", ein Blues, der in vielerlei Hinsicht typisch für die Kompositionen Jacksons ist. Sie sind oft formal sehr schlicht und basieren meist auf Bluesharmonien. Die simple Pentatonik der Melodielinie dieses und vieler anderer Jackson-Stücke stehen im reizvollen Kontrast zur Komplexität seiner Improvisationen.
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Bags' Groove(take 1)- Miles Davis
Immer wieder brach "Bags" aus der strengen Disziplin des Modern Jazz Quartet aus, um mit allen erdenklichen Bebop- und Mainstream-Besetzungen Alben aufzunehmen, auf denen er weit ungezwungener swingt als im MJQ. Besonders empfohlen seien die "Gipfeltreffen" mit Saxophonist John Coltrane, Sänger und Pianist Ray Charles, Pianist Horace Silver, Altsaxophonist Cannonball Adderley und Gitarrist Wes Montgomery. Sie allein würden schon seinen Platz in der Jazzgeschichte sichern. Von wenigen Jazzmusikern gibt es mehr Platten als von Milt Jackson. Seine Aufnahmetätigkeit explodierte geradezu, als er 1975 bis 1985 für Norman Granz' Label Pablo ein Meisterstück nach dem anderen vorlegte. Ein typisches Beispiel ist das Album mit dem sprechenden Titel "Ain't But A Few Of Us Left" von 1981 mit Oscar Peterson und Ray Brown. Hier nutzten die älter werdenden Musiker, von denen einige dann um die Jahrtausendwende starben, die Zeit, um die Fackel des Bebop und des swingenden Mainstream an die nächste Generation weiterzugeben. "Bags" hat zwar am 9. Oktober 1999 aufgehört zu grooven, doch sicher ist es auch ihm zu verdanken, dass es heute rund um den Globus mehr Jazz auf dem Vibraphon gibt als je zuvor.
radioJazznacht extra am 01. Januar 2023 ab 03:00 Uhr auf Bayern 2
Bags' Groove – zum 100. Geburtstag des Vibraphonisten Milt Jackson.
Von und mit Marcus A. Woelfle