Jahrzehntelang wurden im Jazz auf allen Jam Sessions dieser Erde fast nur Kompositionen von Männern gespielt, aus dem sogenannten Real Book. Jetzt ist eine Notensammlung ausschließlich mit Kompositionen von Jazzerinnen erschienen – ein Meilenstein.
Bildquelle: Berklee Press
Duke Ellington, Dave Brubeck, George Gershwin, Cole Porter und schier unzählige andere Männer haben berühmte Jazzstücke geschrieben. Standards werden sie genannt, und sie bilden das Grundrepertoire des Jazz. Auf der ganzen Welt beherrschen Menschen diese Stücke, oft auswendig, und ohne eine Probe können diese Jazzstandards mit anderen sogar aufgeführt werden.
In den 1970er Jahren begann das renommierte Berklee College of Music in Boston das Repertoire des Jazz zu sammeln und in sogenannten Real Books zu veröffentlichen. Anfangs waren so viele Fehler in den "Leadsheets", in denen oft nur nur Melodie und Akkordsymbole aufgeführt waren, dass die Bücher den Spitznamen "Fakebook" bekommen.
Pianistin Kris Davis | Bildquelle: Jazz+ Festival
Viele hundert Stücke finden sich in den Büchern, aber das Stück "Willow weep for me" ist ein einzigartiges Stück: Es ist das einzige, das von einer Frau komponiert wurde, von Ann Ronell. Frauen als Mitkomponistinnen oder Texterinnen werden schon aufgeführt, aber Stücke, die ausschließlich von Frauen komponiert wurden, gibt es sonst keine.
"Überrascht und verwirrt" war Pianistin Kris Davis. Die Kanadierin ist eine der herausragenden Instrumentalistinnen des heutigen Jazz, und sie gehört zum Team des "Berklee Institute of Jazz and Gender Justice", des Instituts für Jazz und Gender-Gerechtigkeit am Berklee College.
Es gibt unzählige Komponistinnen, die einfach nicht in den Geschichtsbüchern und in den Real Books vorkommen. Im Grunde ein Skandal, denn Jazzkomponistinnen gibt es, seit der Jazz vor mehr als 100 Jahren erfunden wurde: So zum Beispiel Lil Hardin, Pianistin und Komponistin, und später die Frau von Trompeter Louis Armstrong, oder die Pianistin Mary Lou Williams, die Saxophonistin Jane Ira Bloom; die Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington und noch unzählige andere, deren Stücke eigentlich im Real Book zu finden sein müssten.
Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington setzt sich für Kompositionen von Jazzerinnen ein. | Bildquelle: Jacobs
Terri Lyne Carrington ist Leiterin des "Institute for Jazz and Gender Justice". Sie begann gemeinsam mit Kris Davis und einem größeren Team vor drei Jahren, Kompositionen von Jazzerinnen für ein neues Real Book zu suchen und jetzt ist es da: "New Standards – 101 Lead Sheets by Women Composers", 101 Stücke ausschließlich von Komponistinnen.
Es sei ein langsamer Prozess, die patriarchalische Gesellschaft als solche zu erkennen und sie zu verändern, die Musik ausgeglichener zu gestalten und sogar die ganze Welt, aber das sei das Ziel dieses Buchs, so Kris Davis.
Diese Sammlung ist auch erst der Anfang, weitere Ausgaben sind schon in Planung. Auch wenn der Verlag ganz zu Beginn der Recherchen für das Buch nicht sicher war, ob wirklich 101 Kompositionen zusammenkommen würden. Aber schnell war klar, es sind noch viel mehr. Blues-Stücke finden sich im Buch, Bebop-Stücke, Groove-Kompositionen, Balladen und auch Latin-beeinflusste Nummern.
Aufsehenerregend und richtungsweisend ist diese neue Sammlung von Stücken natürlich für die großen Institutionen wie Hochschulen sowie für den kompletten Bereich der Jazzpädagogik. Aber auch für den für den praktischen Jazz, gespielt von Fans, ist dieses Buch bahnbrechend. Jazzstandards sind die gemeinsame weltweite Sprache der Menschen, die Jazz lieben. Egal wo in der Welt, Menschen, die sich damit auseinandergesetzt haben, können diese Musik ohne vorherige Probe spielen. Die Real Books haben bestimmt, was auf Jam Sessions zu hören war, und das war bisher fast ausschließlich männlich.
Als junge Musikerin hatte sich Kris Davis mit ihren Freunden und Freundinnen am Wochenende getroffen und von A bis Z durchs alte Real Book gespielt. Vielleicht, so hofft sie, wird in 10 oder 20 Jahren das neue Buch einen ähnlichen Zugang zum Jazz eröffnen für alle Menschen – Frauen, Männer und nicht binäre Personen. Die Quelle für diesen diverseren Zugang zum Jazz gibt es jetzt.
Sendung: "Leporello" am 11. November 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK