Bachs Goldberg-Variationen sind nicht vom Himmel gefallen. Rund 150 Jahre vorher gab es bereits einen großen Clavier-Zyklus, der wie ein rätselhafter Monolith aus der Musik des Frühbarocks herausragt: Hans Leo Hasslers Variationen über "Ich gieng einmal spatieren". Zum 50-jährigen Jubiläum seines "Studio XVII Augsburg" hat der Cembalist Roland Götz dieses dreiviertelstündige Stück neu entdeckt.
Bildquelle: © studio XVII augsburg
Z: Ich ging einmal spazieren
ein Weglein, das war klein
Mit diesem Lied, dieser Melodie beginnt eines der rätselhaftesten Werke der Musikgeschichte.
Z: Was tät mich da verführen?
Mein Fleisch so ganz unrein,
das voller Sünden was,
die Schlang hat uns betrogen,
wir haben's von Eva gesogen,
da sie den Apfel aß.
Ein Lied über den Sündenfall aus dem 16. Jahrhundert. Die Melodie war damals in ganz Europa populär, noch heute steht sie im Evangelischen Gesangbuch, und auch Hans Leo Hassler erlag ihrem Zauber und hat um 1600 Cembalo-Variationen darüber geschrieben. Aber was für welche!
Variationsfolgen gab es schon einige damals, an der Wende von der Renaissance zum Barock. Die meisten sind ein paar Minuten lang, fünf, sechs, ganz selten mal zehn. Aber Hasslers Variationen über "Ich ging einmal spazieren" dauern sage und schreibe eine Dreiviertelstunde. Der Spazierweg führt bei ihm in ein Labyrinth, aus dem man so schnell nicht mehr herausfindet.
Der Nürnberger Hans Leo Hassler war eine schillernde Persönlichkeit: nicht nur Organist bei den Fuggern in Augsburg und beim Kurfürsten in Dresden, sondern auch Geschäftsmann, Bergwerkbesitzer und Musikautomatenbauer. Dass er quasi aus dem Nichts so einen riesigen Zyklus komponiert hat, wirft Fragen auf: Gab es Vorläufer? Was war der Anlass für die Komposition? Hat der Zyklus womöglich eine Bedeutung, die über das rein Musikalische hinausgeht? Und nicht zuletzt: Könnte Hasslers "Spaziergang" Vorbild gewesen sein für ein Werk, das 150 Jahre später entstand und ebenfalls aus einem Thema und genau 30 Variationen besteht - auf Bachs Goldberg-Variationen?
Der Cembalist Roland Götz kann diese Rätsel nicht alle lösen. Aber musikalisch sorgt er für Klarheit wie kaum jemand vor ihm. Schon allein dadurch, dass er die originale Turiner Tabulatur ausfindig gemacht und gewissenhaft neu übertragen hat. Diese intensive Beschäftigung mit der Quelle verleiht seiner Interpretation Stimmigkeit und Stringenz: Jede Variation erhält unter Götz konsequent phrasierenden Fingern ihren individuellen Charakter: mal entschlossen voranschreitend, mal nachdenklich im gedämpften Lautenzug-Register.
Götz verziert sparsam, aber modelliert auf seinem Nachbau eines Ruckers-Cembalos Hasslers viele funkelnde Ideen plastisch heraus. Denn oft verarbeitet eine einzige Variation nicht nur ein Motiv, sondern zwei oder drei nacheinander. Gegen Ende baut Hassler, wie später Bach, sogar noch ein ganz anderes Lied ein: "O Nachbar Roland" heißt es und bekommt bei Roland Götz einen großen Auftritt wie eine neue Persönlichkeit in einem Theaterstück.
Auch wenn das Sechzehntel-Feuerwerk am Ende des Zyklus ruhig noch etwas effektvoller hätte ausfallen dürfen, ist man nach diesem dreiviertelstündigen Spaziergang dem Rätsel Hassler doch viele Schritte näher gekommen. Ein Meilenstein in der Geschichte der Klaviermusik - und eine würdige Jubiläums-CD zum 50-jährigen Bestehen des Studios XVII Augsburg.
Hans Leo Hassler: Ich gieng einmal spatieren, Canzona in d.
Roland Götz. Studio XVII Augsburg
Label: studio XVII augsburg
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 14. August 2022, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK