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Musica enchiriadis Ältestes erhaltenes Lehrwerk der Polyphonie

Musica enchiriadis  | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Stichwort | 24.11.2019

Musica enchiriadis

Es war eine Revolution: Mehrstimmige Musik - die dann auch noch notiert werden konnte! - Klar, heute scheint das nicht mehr sonderlich spektakulär. Aber im 9. Jahrhundert, als die Musica enchiriadis - zu Deutsch in etwa: Handbuch der Musiklehre - enstand, war die Möglichkeit, Musik schriftlich festzuhalten, ganz neu, denn der Autor des Lehrwerks dürfte bis dahin von einer nur mündlich tradierten Musikpraxis umgeben gewesen sein. So merkt man in dem in Latein geschriebenen Text auch immer wieder, wie entzückt er darüber ist, dass man "die Töne wird aufzeichnen und singen können, nicht schlechter als Buchstaben schreiben oder lesen".

Wer dieser Verfasser war, ist übrigens nicht gesichert, wenn man auch annimmt, es sei ein gewisser Abt Hoger gewesen, der um das Jahr 900 dem Kloster Werden an der Ruhr vorstand. So geht es in der Musica enchiriadis denn auch um den Gesang in den klösterlichen Stundengebeten und Gottesdiensten. Doch wer immer das Werk - und seine Fortsetzung, genannt Scolica enchiriadis - nun schrieb: In jedem Falle handelt es sich um das früheste Lehrwerk der Notenschrift und des mehrstimmigen Singens überhaupt, von dem wir heute wissen.

Spannender Inhalt

Zuerst führt der Verfasser des Lehrbuchs die sogenannte Dasia-Schrift ein, mit der nun erstmals in der Musikgeschichte Töne eindeutig notiert werden konnten. Außerdem erklärt er die Kirchentonarten und legt dem Leser dazu Gesangsübungen ans Herz, um Text und Musik adäquat wiederzugeben. Da heißt es dann etwa:

"Was in der Sprache Buchstaben, Silben, Wörter und eine ganze Rede seien, seien in der Musik die Töne, Intervalle und Melodien".

Immer wieder diskutiert der Autor antike Aussagen zur Musiktheorie, aber auch Schriften der Kirchenväter; vor allem Augustinus spielt eine wichtige Rolle. Aber dann wird er auch wieder ganz praktisch: Quarte, Quinte und Oktave werden zu Konsonanzen, alle anderen Intervalle zu Dissonanzen erklärt. Und schließlich erfährt der Leser, wie die gregorianischen Melodien als Quint- oder Quartorganum zu singen sind: Also mit einer parallel zur Hauptstimme laufenden zweiten Stimme im Abstand einer Quinte oder Quarte. Das ist die erste schriftliche Anleitung zum mehrstimmigen Singen, die wir kennen, und das erste Mal, dass mehrstimmige Musik notiert wurde - ein Meilenstein!

Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 24. November 2019, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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