Händels Messias oder Bachs Weihnachtsoratorium – das Musikleben wäre heute deutlich ärmer ohne diese beiden Werke, die bekanntesten dieser Gattung.
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Oratorium - ein großes Wort in der Musikgeschichte. Es steht für eine Gattung, so langlebig und vital wie Oper und Konzert, Suite, Sonate und Sinfonie. Ihre Anfänge gehen zurück in die Zeit um 1600. "Rappresentazione di anima e di corpo" von Emilio de Cavalieri ist wohl das früheste erhaltene Oratorium. Oratorium: Das lateinische Wort bedeutet "Betsaal" - ein Ort, wo man von alters her Bibellesungen und andächtige Reflexionen abhielt.
Für die musikalische Gattung Oratorium sind bei aller Vielfalt der Ausprägungen folgende Elemente prinzipiell: der Erzähler (Historicus oder Testo genannt), der das Geschehen rezitativisch erläutert, die Soliloquenten (die Solisten) und die Turbae (die Chöre), die das Geschehen in Arien und Ensembles oder in Chorsätzen kommentieren oder darüber reflektieren.
All dies rückt das Oratorium in die Nähe der Oper. Beide Gattungen entfalten auch eine dramatische Handlung, wobei das Sujet eines Oratoriums zumeist geistlich ist. Der entscheidende Unterschied: das Oratorium ist nichtszenisch. Es ist konzertant konzipiert - für die Kirche oder für den Konzertsaal, und nicht für das Theater.
Dennoch: Durch die ganze Geschichte des Oratoriums hindurch beeinflussen immer wieder Neuerungen der Oper die Gattung. Die Neapolitanische Schule mit Alessandro Scarlatti an der Spitze führt das Secco- und das Accompagnato-Rezitativ sowie die Da-Capo-Arie der Oper in das Oratorium ein. Händels Oratorien, allen voran "Der Messias", und Bachs Weihnachtsoratorium profitieren davon.
Joseph Haydns Erfolgsoratorien "Die Schöpfung" und "Die Jahreszeiten" weisen den Weg ins 19. Jahrhundert. Durch Mendelssohn, Schumann und Spohr wird das Oratorium zu einer der zentralen Gattungen der deutschen bürgerlichen Musik. Und auch bei den europäischen Nachbarn bleibt es beliebt: Berlioz in Frankreich und Edward Elgar in England profilieren sich als große Oratorienkomponisten.
Im 20. und 21. Jahrhundert gibt es keine generelle inhaltliche oder formale Richtung des Oratoriums. Alles ist nun erlaubt, und die Unterschiede zwischen den Gattungen verschwimmen. Leonard Bernsteins "Kaddish"-Symphonie beispielsweise ist de facto ein Oratorium, bei dem der Erzähler allerdings kein Sänger, sondern ein Sprecher ist. Das Oratorium bleibt eine zeitgemäße, eine aktuelle - eine moderne Gattung.
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 21. Juni 2015, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK