Beltraccis gibt's nur in der Kunst? Von wegen. Vor Fakes und Fälschungen ist auch die Musikgeschichte nicht sicher. Der wahrscheinlich skurrilste Fall ereignete sich in den Neunzigern: Der Dachboden einer alten Dame aus Münster spuckt bis dato unbekannte Noten von Joseph Haydn aus. Und alle sind aus dem Häuschen. Eine Weltsensation! – Da sind sich auch die größten Experten sicher. Bis Sotheby's kommt. Und die Party crasht.
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London, 14. Dezember 1993: Der Musikwissenschaftler H. C. Robbins Landon tritt vor die Kameras der BBC und präsentiert einen "Jahrhundertfund". Das ist das Wort, das er benutzt. Und es stimmt ja: Es ist eine ausgewachsene Sensation, die er hier, im Rahmen einer Pressekonferenz, der Weltöffentlichkeit vorstellt. Und er ist der richtige Mann dafür. Wer wenn nicht der Haydnexperte schlechthin, sollte für die Echtheit dieser Noten einstehen. Und echt, das sind sie – da ist sich der Superkenner sicher.
Worum es geht? Um sechs verschollene Sonaten von Joseph Haydn. Aufgetaucht auf dem Dachboden einer alten Dame in Münster. Spätentdecktes Spätwerk sozusagen. Diese Sonaten, jubelt der Musikforscher, illustrierten "in bemerkenswert eigenartiger Weise Haydns Suche nach einer neuen musikalischen Sprache von Kraft und Schönheit."
"Bemerkenswert eigenartig"? Das hätte auch Anlass sein können, etwas genauer hinzusehen. Wie es die Handschriftenexperten von Sotheby's tun. Die erlauben sich Monate später den Hinweis, dass es die Stahlfedern, die zur Niederschrift der Noten verwendet wurden, zu Haydns Lebzeiten noch gar nicht gab. Ziemlich mysteriös. Und noch mysteriöser: Auch die alte Dame, deren Dachboden die Sonatensensation ausgespuckt hat, ist irgendwie unauffindbar. Hm.
Superkenner? H.C. Robbins Landon ging der Haydn-Fälschung auf den Leim | Bildquelle: picture-alliance / akg-images / Marion Kalter
Um es kurz zu machen: Die angebliche Sensation ist in Wahrheit eine sensationelle Fälschung. Eine geniale Stilkopie, ausgeführt von einem Münsteraner Blockflötisten namens Winfried Michel. Übrigens auch der Mann, der die Sonaten auf dem Dachboden jener ominösen alten Dame gefunden haben wollte.
Ziemlich peinlich für den Haydnpapst, der bereits eine Konferenz in Harvard geplant hatte. Um Erklärungen ist Robbins Landon allerdings nicht verlegen. Dann sei Winfried Michel eben der größte Fälscher der Weltgeschichte, meint er. Logisch, dem größten Kenner kann nur der größte Fälscher das Wasser reichen.
Immerhin ist Robbins Landon nicht allein. Auch der Pianist Paul Badura-Skoda, ein Spezialist für die Musik der Wiener Klassik, ist den Noten auf den Leim gegangen. Hat sie sogar schon eingespielt. Von heute aus betrachtet: ein Glück! Was wäre eine musikalische Fälschung schon, wenn man sie nicht hören könnte?
Übrigens: Einer hätte diesem Fake wohl ziemlich entspannt zugehört. Haydn selbst. Schon zu Lebzeiten wurde nämlich niemand so oft kopiert wie er. Er war's gewohnt.
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Sendung: "Allegro" am 14. Dezember 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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