Erst war er Deutschlands jüngster Ballettboss, als er mit noch nicht einmal 30 Jahren das Frankfurter Ballett übernahm. Inzwischen hält John Neumeier den Weltrekord als dienstältester Tanzchef. Über 45 Jahre leitet der in Milwaukee geborene Sohn einer Polin und eines deutschen Kapitäns das Hamburg Ballett, hat mit seinem choreographischen Stil eine Weltmarke aufgebaut. Seine Compagnie bringt Klassiker-Adaptionen, wie Nussknacker oder Schwanensee auf die Bühne, vertanzt Musik, die mit Ballett nichts am Hut hat und erzählt dabei immer Geschichten.
Bildquelle: picture-alliance/dpa/Maja Hiti
Der Beitrag zum Anhören
"Ich stehe auf und habe das Gefühl, ich kann mich dazu bewegen. Weil es mich dazu bewegt, mich zu bewegen". So geht es dem großen Choreografen John Neumeier, wenn er Musik hört. Das war auch schon so, als der vierjährige John mit seiner Mutter im Kino ein Musical ansah. Das Erlebnis bewegte den Jungen so tief, dass er nach der Vorstellung die Tänzer nachzuahmen versuchte. Und genau so beginnt auch heute noch jede Geschichte, die John Neumeier erzählt. Etwas bewegt ihn, packt ihn - auch im übertragenen Sinne: Leo Tolstojs Roman "Anna Karenina" zum Beispiel oder Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig", der irrsinnige Tänzer Nijinskij oder der irrende Odysseus.
Und weil eine Idee - ob irre, süß oder wild - gefüttert werden will, stürzt sich der studierte Theaterwissenschaftler Neumeier jedes Mal tief in die Recherchearbeit. "So wie ein Eisberg. Der obere Teil ist das, was ich sage. Aber um das zu sagen, muss ich vieles wissen." Zum Wissen kommt das Hören der Töne und Zwischentöne in der Musik. Und dann wird das, was John Neumeier bewegt, konkret und körperlich: Arme, Beine, Kopf, Schultern, Hände, Fingerspitzen werden in Schwingungen versetzt. Als ob die ganze Haut Ohren hätte.
45 Jahre an einem Haus, acht verschiedene Intendanten, mindestens so viele Generalmusikdirektoren. Alle hat John Neumeier ausgehalten, alle haben ihn ausgehalten. Er hat dem Ballett eine autarke, starke Rolle verschafft. Während man an der Hamburgischen Staatsoper für Wagners "Walküre" am Abend der Vorstellung noch Karten bekommt, sind John Neumeiers Ballette so gut wie immer ausverkauft. Was er auf die Bühne bringt, ist nach wie vor frisch, kreativ und berührend menschlich.
Impulse empfängt Neumeier, weil er am Ball bleibt, weil er die Kreativität der Tänzerinnen und Tänzer in seiner Compagnie fördert und auch aus seiner Arbeit mit dem Nachwuchs. Er hat bereits 1978 das Hamburger Ballettzentrum gegründet, eine Schule, die längst zur Weltspitze gehört. Er hat das Bundesjugendballett ins Leben gerufen.
Disziplin gibt einem die Freiheit, über die Wirklichkeit zu sprechen.
Nur eine streng klassische, disziplinierte Ausbildung ist für Neumeier eine optimale Ausgangsbasis. Trotzdem nimmt Neumeiers sehr eigener choreographischer Stil auch Elemente des modernen Balletts auf. Längst nicht jede Fußspitze muss maximal gestreckt sein, nicht jede Armbewegung butterweich. Voraussetzung: Es dient dem angestrebten Ausdruck.
Neumeiers Vertrag als Intendant und Geschäftsführer beim Hamburg Ballett wurde bis 2023 verlängert, ans Aufhören denkt er also nicht wirklich. Schließlich ist da ja noch diese Idee von einem Ballettmuseum an der Elbe, dem Neumeier unbedingt seine private Sammlung von 25.000 kostbaren Objekten zur Tanzgeschichte und 10.000 Büchern und Schriften zur Verfügung stellen möchte.
Ich versuche mich fit zu halten - mit einem Crosstrainer morgens.
Sendung: "Piazza" am 22. Februar 2019 ab 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK