Leonard Bernstein war ein Mann, der die Öffentlichkeit liebte. Für den Kontakt mit ihr nutzte er, in einem Umfang wie nur wenige seiner Zeitgenossen, die Schallplatte. 1.017 Treffer ergibt die Suche nach Einspielungen auf der offiziellen Webseite leonardberstein.com, so gut wie alles da von A wie Alford, Kenneth bis Z wie Zimmerman, Charles. Man kann sagen: "Lenny" hat sich mit jedem Komponisten befasst. Beginnend mit Haydn findet bei Lenny jeder zuverlässig etwas, der sich für die klassische Musik interessiert.
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Das Weitergeben, das war für Bernstein genauso wichtig wie Komponieren und Dirigieren. Er hielt Vorträge, er trat vor Schülern und Studenten auf, er hatte mit der Fernsehreihe "Young People’s Concerts" eine der erfolgreichsten TV-Sendungen der USA. Praktisch alles, was er mit und für die Musik machte, ließ er aufnehmen. Die frühesten Aufnahmen stammen aus den 1940er-Jahren, ab den 1960ern gab er dann bei den Aufnahmen Vollgas. Im Lauf seiner Karriere ergaben sich Schwerpunkte, denen Bernstein sich stetig, immer wieder oder besonders intensiv widmete. Das waren die Kompositionen von Beethoven und Brahms, ergänzt durch die großen Symphonien und geistlichen Werke Joseph Haydns, die Symphonien von Gustav Mahler, Musik amerikanischer Komponisten und, natürlich, seine eigenen Kompositionen.
Grundsätzlich gilt auch für Bernstein, was bei vielen seiner berühmten Kollegen zu beobachten ist: Die früheren Aufnahmen (bei Bernstein die mit dem New York Philharmonic Orchestra beim Label Sony bis Ende der 1960er-Jahre) sind die temperamentvolleren, wagemutigeren, im Klang schrofferen. Er hat in späteren Jahren, als Star der Deutschen Grammophon Gesellschaft (DG), das meiste neu aufgenommen, mit anderen berühmten Orchestern. Dort zeigt er sich abgeklärt, versöhnlich, für seine Verhältnisse milde, aber auch deutlich sensibler für Details, sowohl der Komposition als auch des Klangs der Orchester.
Ähnlich seinem Berufs- und späteren Plattenlabel-Kollegen, dem zehn Jahre älteren Herbert von Karajan, war Bernstein eine Gesamtsicht auf seine Favoriten unter den Komponisten wichtig. Beethovens Symphonien gibt es mit Bernstein zweimal komplett: Einmal vom Anfang der 1960er-Jahre mit den New Yorker Philharmonikern bei Sony und in dem späteren, legendär gewordenen Zyklus mit den Wiener Philharmonikern von 1977 bei der Deutschen Grammophon – quasi die hausinterne Konkurrenz aus Wien zu Karajans Interpretationen mit den Berliner Philharmonikern. Der New Yorker Zyklus ist der kantigere, lebendigere; die Aufnahmen aus Wien wirken dagegen zahmer, vielleicht auch abgeklärt. Sie nehmen durch Bernsteins feinsinnigen Umgang mit dem speziellen Klang und der besonderen Spielkultur des Wiener Spitzenorchesters für sich ein.
Cover Leonard Bernstein "Ode an die Freiheit" | Bildquelle: Deutsche Grammophon Mit Beethoven erlebte Bernstein einen der persönlichen Höhepunkte seiner Karriere: Er war es, dem die Ehre zu Teil wurde, am 23. und 25. Dezember 1989 die Festkonzerte zur Feier des Falls der Berliner Mauer in der Philharmonie in West-Berlin und im damaligen Schauspielhaus in Ost-Berlin zu dirigieren. Musiker und Choristen aus Spitzenorchestern aus mehreren Ländern waren dazu nach Berlin gekommen, darunter auch der Chor und Mitglieder des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Im berühmten vierten Satz mit Schillers "Ode an die Freude" ließ Bernstein Solisten und Chor das Wort "Freiheit" statt des originalen "Freude" singen. In der Aufnahme der DG ist dieses Ereignis festgehalten.
Bei Haydn hat sich Bernstein mit den New Yorkern (Sony) mit den "großen" Symphonien aus Paris und London des Komponisten beschäftigt; seine ebenso energiegeladene wie sensible Sicht auf Brahms hat er bei DG wieder mit den Wiener Philharmonikern dauerhaft gültig festgehalten. Zu Bernsteins Brahms gehören auch die beiden Klavierkonzerte mit dem polnischen Pianisten Krystian Zimerman, bekannt für seine Sensibilität und Öffentlichkeitsscheu, sowie eine der Aufnahmen, die der Geiger Gidon Kremer vom Violinkonzert gemacht hat. Nicht ohne Grund mit Lenny.
Ludwig van Beethoven - Die neun Symphonien: New York Philharmonic Orchestra, Label Sony
Wiener Philharmoniker, Label Deutsche Grammophon (DG)
Joseph Haydn: 12 Londoner Symphonien, New York Philharmonic Orchestra, Sony
Johannes Brahms: Die vier Symphonien, Violinkonzert (mit Gidon Kremer), Konzert für Violine, Violoncello und Orchester (mit Gidon Kremer und Mischa Maisky); Wiener Philharmoniker, Deutsche Grammophon
Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr.1, Klavierkonzert Nr.2, mit Krystian Zimerman, Wiener Philharmoniker, je eine CD, DG
Für Liebhaber des Besonderen: Johannes Brahms, Klavierkonzert Nr. 1, mit Glenn Gould, New York Philharmonic, Sony
Cover - Leonard Bernstein "The complete Maler Symphonies" | Bildquelle: Sony Classical "Und natürlich Gustav Mahler. Für ihn hat Bernstein so viel getan wie kein anderer Dirigent des 20. Jahrhunderts.“ Nicht nur der bedeutende Mahler-Biograf Jens-Malte Fischer, von dem diese Worte stammen, würdigt Bernsteins Bedeutung für die Renaissance von Mahlers Musik bei den Orchestern und in den Konzertsälen weltweit. Für Mahler investierte Bernstein einen ganz großen Teil seines Herzbluts. Schließlich war es der große Mahler-Interpret Bruno Walter, der Bernsteins Karriere den entscheidenden Kick gab, als er ihn 1943 bei einem Konzert in der Carnegie Hall zum Einspringer machte, weil er selbst wegen Grippe nicht auftreten konnte. Bernsteins erste Aufnahme des Zyklus' mit den New Yorker Philharmonikern um 1960 wird nach wie vor als "Pioniertat" gewürdigt. Später war es eines der größten Anliegen des Dirigenten, Gustav Mahler wieder "nach Hause" zu bringen, nach Wien. Ende der 1970er brachte er die bekannt widerständigen Herren vom Wiener Philharmonischen Orchester dazu, mit ihm alle Symphonien Mahlers aufzuführen – und, vor allem, sie, bis auf die Zweite, aufzunehmen (nur auf DVD verfügbar). Vor allem im deutschen Sprachraum erhielt Bernsteins Wiener Mahler schnell Kultstatus – obwohl er kritisiert wurde, er sei zu positiv, lustvoll, ungebrochen. Mag sein. Aber es ist genau das – plus der unvergleichliche Wiener Klang -, was entscheidend dazu beitrug, dass diese so subjektive und schonungslose Musik endlich auf weit geöffnete Publikums- und Musikerohren stieß.
Gustav Mahler: The Symphonies, Wiener Philharmoniker, London Symphony Orchestra (Symphonie Nr. 2) DG-DVD
The Complete Symphonies, New York Philharmonic, Sony
Leonard Bernstein und Aaron Copland, 1987 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Leonard Bernstein, der Weltbürger, einer der globalen Super-Stars des Musik-Business, war in seinem tiefsten Inneren Amerikaner. Wenn er sich hinsetzte zu seinem zweiten Beruf, dem Komponieren, dann suchte und horchte er in sich nach Klängen, Wendungen und Harmonien, die typisch waren für seine Heimat. Er trug keinen geringeren Anspruch in sich, als grundlegend gültige amerikanische Musik zu schreiben. Vor allem strebte er danach, nach Gershwins "Porgy and Bess" die neue große amerikanische Oper zu komponieren. So gehörte es zu seinen vornehmsten Aufgaben, Musik anderer amerikanischer Komponisten aufzuführen, aufzunehmen und sie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. Kompositionen von Aaron Copland, Charles Ives, Samuel Barber oder George Gershwin: Bernstein kann man sich rundum anvertrauen. Allein von Copland finden sich in der Bernstein-Discographie 34 Titel; ihm stand er besonders nahe: Bernstein nannte Copland "meinen ersten Freund in New York, meinen Meister, mein Vorbild, meinen Weisen, meinen Therapeuten, meinen Führer, meinen Berater, meinen älteren Bruder, meinen geliebten Freund."
Aaron Copland: Fanfare for the Common Man; Samuel Barber: Adagio for Strings, auf: “20th Century”, New York Philharmonic, Sony
Aaron Copland: Appalachian Spring, Los Angeles Philharmonic Orchestra, DG
Charles Ives, Central Park in the Dark, New York Philharmonic, DG
Charles Ives: Symphony No. 2, "The Unanswerd Question" u.a.; New York Philharmonic, DG (Auch auf DVD)
George Gershwin: "An American in Paris", New York Philharmonic, Sony
George Gershwin: "Rhapsody in Blue", Columbia Symphony Orchestra; Leonard Bernstein, Piano & Conductor (auf: “20th Century”, Sony) mit dem Los Angeles Philharmonic auf DG
Cover - Leonard Bernstein "West Side Story" | Bildquelle: Deutsche Grammophon
"Das zerrissene Genie" nannte der Autor Thomas von Steinaecker seine Filmdokumentation über die zwei großen Begabungen des Leonard Bernstein (auf Arte abrufbar bis 16. November 2018): die des Dirigenten und die des Komponisten. Sie gingen nicht etwa Hand in Hand. Immer befürchtete der Komponist Bernstein, er könne sich gegen den Dirigenten Bernstein nicht durchsetzen. Obwohl ihm mit "West Side Story", 1957, nach zwei Vorgängern ("On the Town" und "Wonderful Town") der Einzug in das Pantheon der amerikanischen Komponisten gelungen war. "West Side Story" ist die musikalische Ikone der US-amerikanischen Lebensrealität in New York. Eine Synthese aller in dem Land verfügbarer Musikstile zu einem Bühnenwerk der unerschöpflichen und unvergänglichen Einfälle. "West Side Story" ist ein "Must".
Leider dominiert Bernsteins eigene DG-Aufnahme von 1984 den Markt. Darin trimmt er das scharf geschnittene Musical in Richtung einer gefühligen Oper - mit einem international besetzen Symphonieorchester und den Gesangsstars Kiri Te Kanawa und José Carreras. Als echte Musical-Fassung – nicht unter Bernstein, sondern Jonny Green – kursiert eine Aufnahme von 1961 auf Vinyl vom Label Columbia Masterworks. Bei Naxos ist eine Gesamtaufnahme unter Leitung von Kenneth Schermerhorn auf CD erhältlich.
Sehr spannend als Dokument der künstlerischen Arbeit ist die DVD von den Aufnahmesitzungen von Bernsteins eigener Einspielung:
Leonard Bernstein: West Side Story - Eine Aufnahme entsteht (The Making of the Recording), Deutsche Grammophon
Neben den einzelnen Songs, die von den verschiedensten Künstlern, darunter Stars der Pop-Szene, aufgenommen wurden, sind die "Symphonic Dances from West Side Story" sehr beliebt bei Orchestern. Bernstein hat diese Suite selbst zusammengestellt.
Dieser Erfolg sollte, jedenfalls zu Bernsteins Lebzeiten, nicht wiederkehren. Trotz prominenter Librettisten und harter Arbeit gelang ihm kein weiteres Bühnenwerk, das ungeteilten Zuspruch des Publikums und der Kritiker gefunden hätte. Die gültige, die definitive amerikanische Oper schreiben, das war das Streben und das Leiden des Komponisten Leonard Bernstein. Eine Sehnsucht, die ihn schier zerriss, die ihn abtrennte vom Genuss des übermenschlichen Erfolgs des Dirigenten. Erst heute gelangen Bernsteins Bühnenwerke zu mehr Anerkennung. "Candide" und auch "Trouble in Tahiti" erfahren Aufführungen, weniger die sehr komplex angelegte Oper "A quiet place".
Einen guten Überblick aus Bernsteins anderen Bühnenwerken bietet "Bernstein. The Songbook" , eine Vinyl-LP der CBS von 1988.
"Candide" gibt es als Gesamtaufnahme auf CD und DVD bei DG
DVD-Cover - Leonard Bernstein mit "Große Messe in c-Moll" von Mozart | Bildquelle: Deutsche Grammophon Mit dem Chor und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks verband Bernstein eine langjährige enge Freundschaft. Es war das Orchester in Deutschland, das er am häufigsten dirigierte. Regelmäßig kam er nach München, leitete hier Konzerte mit den Ensembles des BR und machte Aufnahmen für Hörfunk und Fernsehen. Sie liegen heute zum Teil auf CD und DVD vor.
Viele von Bernsteins Arbeiten ab den 1970er-Jahren wurden auch gefilmt. Der Katalog der DG enthält eine große Zahl von DVDs. Darunter befindet sich auch die Aufzeichnung von Haydns "Schöpfung" mit dem Chor und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sowie die legendäre Aufnahme von Wagners "Tristan und Isolde" mit Peter Hofmann und Hildegard Behrens in den Titelrollen.