Als Gustav Mahler am 18. Mai 191 in Wien starb, waren zwei seiner wichtigsten Werke noch gar nicht öffentlich erklungen: das "Lied von der Erde" und die Symphonie Nr. 9. Dass es zusätzlich noch eine Zehnte Symphonie gab - oder zumindest ausführliche Kompositionsskizzen zu einem solchen Werk - wussten damals außer Mahlers Witwe Alma nur wenige.
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Der Schriftsteller und Musikkritiker Richard Specht wusste um das noch ungehobene Kleinod und schrieb im Jahr 1913: "Es wird ruhen bleiben - und manchem ein seltsames Gefühl geben, dass irgendwo, gleichsam lebendig begraben, vollkommen zum Dasein gerüstet und doch zum Nichterwachen verdammt, ein ganz ausgetragenes Werk von Mahlers Hand in der Welt sei."
Alma Mahler | Bildquelle: picture-alliance/dpa Wahrscheinlich entwarf Gustav Mahler seine Symphonie Nr. 10 im Sommer 1910, und zwar in den Monaten Juli und August in Altschluderbach bei Toblach, seiner Sommerresidenz während der letzten Jahre seines Lebens. Bereits im September musste er nach München reisen, um die Uraufführung seiner Achten Symphonie vorzubereiten. Und außerdem hatte eine tiefe Lebenskrise vom Komponisten Besitz ergriffen: Seine Frau Alma hatte sich während einer Kur in den damals noch sehr jungen Architekten Walter Gropius verliebt - ein Gefühl, dass auf Gegenseitigkeit beruhte. Dies führte dazu, dass Mahler Sigmund Freud konsultierte. Trotz der Belastung brachte Mahler es fertig, seine Zehnte in Umrissen zu skizzieren. Allerdings kam er nicht mehr dazu, das Opus auch zu vollenden, da er den Winter 1910/11 mit Revisionen an seiner Neunten Symphonie verbrachte und anschließend schwer erkrankte - an einer Herzkrankheit, die zu seinem Tode im Mai 1911 führte.
Alma Mahler bat nach dem Tod ihres Mannes mehrere namhafte Komponisten, die Zehnte Symphonie zu vollenden, darunter Arnold Schönberg und Dmitrij Schostakowitsch. Doch erst Ernst Krenek, damals Almas Schwiegersohn, übernahm die Aufgabe - oder zumindest einen Teil davon. Der erste Satz der Symphonie, ein ausgedehntes Adagio, lag als einziger in aufführbarer Partiturform vor - auch wenn auch er im eigentlichen Sinne nicht als vollendet zu betrachten ist; vieles, vor allem in der Instrumentation, hätte Mahler sicherlich nachträglich noch geändert. Zumindest zu einem bedeutenden Teil fertig orchestriert war auch der dritte der fünf geplanten Sätze des Werks - ein kurzes Intermezzo mit dem Titel "Purgatorio". Krenek stellte Partituren dieser beiden Sätze her, und in dieser zweisätzigen Form kam die Zehnte am 12. Oktober 1924 unter Franz Schalk in Wien zur Uraufführung. In der Folge wurde das Adagio verschiedentlich aufgeführt - nicht jedoch das "Purgatorio", das sich aufgrund seiner Kürze und, allerdings nur scheinbarer, Beziehungslosigkeit zum Rest des Werks nicht durchsetzen konnte. Und die anderen Sätze blieben unaufgeführt - was sich auch in den nächsten Jahrzehnten nicht ändern sollte.
... lebendig begraben, vollkommen zum Dasein gerüstet und doch zum Nichterwachen verdammt ...
Cover der CD mit der Premiere von Mahlers Zehnter in der vollständigen Fassung; mit Pfeife: Deryck Cooke | Bildquelle: BBC Zu Gustav Mahlers 100. Geburtstag im Jahr 1960 bereitete der englische Musikwissenschaftler Deryck Cooke für die BBC eine Sendung über die Zehnte vor, die auch Musikbeispiele enthalten sollte. Beim Studium des 1924 veröffentlichten Faksimiles mit allen fünf Sätzen geriet Cooke jedoch vollständig in den Bann des Werks und arbeitete eine spielbare Partitur der Symphonie aus, wobei ihn der vor dem Krieg nach England immigrierte Komponist Berthold Goldschmidt unterstützte. In fast vollständiger Form kam die Zehnte bei einem von der BBC übertragenen Gesprächskonzert am 19. Dezember 1960 zur Aufführung. Alma Mahler wechselte mehrmals ihre Meinung über das Vorhaben, doch nachdem sie ein Band mit der Rundfunksendung gehört hatte, gab sie kurz vor ihrem Tod Cooke die Erlaubnis zur vollständigen Ausarbeitung der Zehnten. Am 13. August 1964 gelangte sie im Rahmen der BBC Proms unter Berthold Goldschmidt zur Uraufführung.
Seitdem hat sich Cookes Version von Mahlers Symphonie Nr. 10 durchgesetzt - auch wenn Cooke keineswegs der Einzige blieb, der sich mit dem Werk auseinandersetzte. Es kann nur geraten werden, wie viele "vollendete" Versionen des Werks es mittlerweile gibt. Aber was Cookes Arbeit so seriös macht, ist, dass er eben nie eine regelrechte Vollendung der Zehnten angestrebt hat, sondern lediglich eine Aufführungsfassung von Mahlers kompositorischen Skizzen zu diesem Werk. Das sollte sich auch jeder, der sich mit dieser Arbeit beschäftigt, vor Augen bzw. Ohren halten. Wieviel Mahler, hätte er länger gelebt, an seiner Zehnten noch geändert hätte, kann niemand wissen. Und auch wenn der gesamte Verlauf der Symphonie anhand der Skizzen abgelesen werden kann, musste Cooke doch an vielen Stellen die Instrumentation, oft auch den Kontrapunkt und die Harmonik, ergänzen. Dies tat er jedoch auf denkbar uneigennützige und uneitle Weise - ohne seine eigene Persönlichkeit auch nur anklingen zu lassen. Und als Blick in die musikalische Werkstatt des Genies Mahler ist die Bekanntschaft mit Cookes Rekonstruktion der Zehnten Symphonie unverzichtbar.
Donnerstag, 16. Februar 2017
Freitag, 17. Februar 2017
Liveübertragung auf BR-KLASSIK - im Hörfunk und im Videostream
München, Herkulessaal der Residenz
Alban Berg:
Violinkonzert "Dem Andenken eines Engels"
Gustav Mahler:
Symphonie Nr. 10 (Konzertfassung von Deryck Cooke)
Veronika Eberle (Violine)
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Yannick Nézet-Séguin