Es gibt Stille, die selbst wieder Musik wird. Eine Musik, die ihrem Klang nachzuhorchen scheint und ihre Kraft bezieht aus einem zurückgenommenen, geläuterten Ausdruck. So ließe sich die Tonsprache von Giya Kancheli beschreiben, der am 10. August 1935 im georgischen Tiflis geboren wurde und dort auch am 2. Oktober im Alter von 84 Jahren verstorben ist.
Bildquelle: picture alliance/Yuriy Kaver/Sputnik/dpa
Der Nachruf zum Anhören
In breitem Melodiestrom fließt Kanchelis Musik kontemplativ dahin, dramatisch durchbrochen von expressiven Gesten, Stauungen oder extremen Lautstärkekontrasten. Doch es ist das Phänomen der Stille, das die Musik des Georgiers so unverwechselbar macht. "Es gibt eine bestimmte Stille, aus der Musik erwächst, in der die Töne nicht wirklich verstummen. Mit meiner Musik versuche ich, eben diese Stille zu verwirklichen, jenen Eindruck, als seien die Klänge immer noch vorhanden." So hat es Kancheli 1995 einmal beschrieben. Dabei folgt seine Musik eigenen organischen Gesetzen des Atmens, der Anspannung und Ruhe. Sein Komponistenkollege Alfred Schnittke nannte dies treffend die "seltene Gabe eines schwebenden Zeitempfindens".
Nach seinem Musikexamen 1963 am Konservatorium von Tiflis arbeitet Kancheli, der zuerst eigentlich Geologe werden wollte, als freischaffender Komponist – ungewohnt und ein Wagnis in der damaligen Sowjetunion. Es entstehen Film- und Bühnenmusiken Einflüsse der alten polyphonen Gesangskultur Georgiens finden ebenso Eingang in sein Schaffen wie avantgardistische Elemente oder moderne Unterhaltungsmusik. 1971 wird Kancheli musikalischer Leiter des Rustaweli-Theaters in seiner Geburtsstadt. Den Ideologen und Kulturbonzen im sowjetischen Georgien ist diese Stilvielfalt suspekt. Man wirft ihm vor, ein Kosmopolit zu sein und unpatriotisch zu denken. 1991 verlässt der Komponist zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern seine Heimat und geht mit einem Stipendium des DAAD nach Berlin, 1995 nach Antwerpen als Composer in Residence an die Königliche Flämische Philharmonie.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Giya Kancheli: Angels of Sorrow
Sieben Symphonien, Orchester- und Kammermusik und eine Oper umfasst Kanchelis Werk. 1995 entsteht der Vokalzyklus "Exil" für Sopran, Instrumente und Tonband. Fünf deutsche Texte von Paul Celan und Hans Sahl thematisieren die Erfahrung der Entwurzelung. Kancheli findet für sie Klänge am Rande des Verstummens. Aus der zerbrechlichen und ungeschützt wirkenden Musik tönt die Erfahrung der Fremde, auch wenn Kancheli das Werk nicht ausschließlich als Werk des Exils verstanden wissen möchte: "Ich denke, meine Tonsprache ändert sich nicht, weil ich woanders lebe, sondern weil Zeit vergangen ist. Wir alle und unsere Umgebung verändern uns ständig, und dies beeinflusst die künstlerische Entwicklung sehr stark."
Ich denke, meine Tonsprache ändert sich nicht, weil ich woanders lebe, sondern weil Zeit vergangen ist.
Im Westen komponiert Kancheli das Violakonzert "Abii ne viderem" – "Ich wandte mich ab, um nicht mit ansehen zu müssen". Ein wehmütiger Klagegesang auf den Verlust der Heimat Georgien, dieses so reiche, uralte christliche Kulturland zwischen Asien und Europa. Interpreten wie die Bratschistin Kim Kashkashin oder der Geiger Gidon Kremer spielen Kanchelis Werke.
Und während die Zahl der Kompositionsaufträge und CD-Veröffentlichungen nach der Übersiedelung zunimmt, wird Kanchelis Musik immer minimalistischer: "Mit jedem Stück einfacher" sei die Sprache, das religiöse Bekenntnis tritt stärker hervor, seine Musik solle "den Eindruck von Schönheit und Ewigkeit vermitteln", so der Komponist. Immer präsent geblieben ist in seinem Werk dabei die Musik Georgiens, deren Geist er weiterträgt. Und dem Rustaweli-Theater in Tiflis hielt Giya Kancheli auch vom Westen aus mit immer neuen Bühnenmusiken sein Leben lang die Treue.
Donnerstag, 3. Oktober 2019, ab 22:05 Uhr:
Horizonte – die Sendereihe für Neue Musik
Zum Tode von Giya Kancheli (Der Sendungsinhalt wurde kurzfristig geändert)
Sendung: "Leporello" am 2. Oktober 2019 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Donnerstag, 03.Oktober, 15:12 Uhr
Natia Tsinelashviki
Geburtsort
Giya Kancheli wurde NICHT in Tbilisi, sondern in BORJOMI geboren. Borjomi ist eine mit dem gleichnahmigen Mineralwassen berühmt. Siehe das Interview vom Herrn Kancheli auf georgisch.
BR-KLASSIK antwortet:
Vielen Dank für Ihre Mail. Wir beziehen uns in unserem Artikel auf die jeweils neueste Ausgabe der Musiklexika "Groves" und "Musik in Geschichte und Gegenwart", die beide – so wie auch alle anderen uns verfügbaren Quellen – Tbilisi als Kanchelis Geburtsort angeben.