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Esa-Pekka Salonens Violinkonzert "Die Summe meiner Erfahrungen"

Uraufgeführt wurde das Violinkonzert von Esa-Pekka Salonen 2009 in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles. Geschrieben hat er es kurz vor seinem 50. Geburtstag. Jetzt dirigiert er das Werk im Rahmen eines Finnland-Schwerpunkts - mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Esa-Pekka Salonen | Bildquelle: Sonja Werner

Bildquelle: Sonja Werner

"Ich schrieb mein Violinkonzert zwischen Juni 2008 und März 2009", notierte Salonen mit dem Zusatz: "Neun Monate, die Länge einer menschlichen Schwangerschaft, welch schöner Zufall." Die Idee, die hinter dem Werk steckt, war, "eine so weite Ausdrucksskala darzustellen, wie ich sie mir über die vier Sätze des Konzerts nur vorstellen konnte: von Virtuosem und Auffälligem zu Aggressivem und Brutalem, von Meditativem und Statischem zu Nostalgischem und Vergangenem." Hier zeigt sich bereits eine der Besonderheiten des Werks: Es hat vier Sätze! Traditionell weist ein Solo-Konzert nur drei Sätze auf, aber das erste Werk dieser Art, das in vier Sätzen angelegt war, stammt schon aus dem Jahr 1881: das Zweite Klavierkonzert von Johannes Brahms. Warum nicht ein Violinkonzert in vier Sätzen, dessen beide Mittelsätze durch ihren ähnlichen Titel auch eng miteinander verbunden sind, wenngleich sie inhaltlich diametral verschieden sind.

Der Geigerin Leila Josefowicz auf den Leib geschrieben

Am 12. April 2009 spiel Leila Josefowicz die Uraufführung von Esa-Pekka Salonens Violinkonzert in Los Angeles - mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra in der Walt Disney Concert Hall. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Esa-Pekka Salonen und Leila Josefowicz 2009 in Los Angeles. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Das Konzert entstand als Auftragswerk für das Los Angeles Philharmonic und ist der großartigen Geigerin Leila Josefowicz quasi auf den Leib geschrieben. "Leila Josefowicz zeigte sich als fantastische Partnerin in diesem Prozess", erzählt Salonen. "Sie kennt künstlerisch keine Grenzen, auch keine Furcht, und sie hat mich beständig dazu angeregt, viel weiter zu gehen, als ich es ursprünglich für möglich gehalten hätte. Das Resultat dieses Prozesses ist, dass dieses Konzert ein Porträt von ihr geworden ist, aber auch eine sehr persönliche Erzählung, eine Art Summe meiner Erfahrungen als Musiker und Mensch an der Grenze zum 50. Lebensjahr."

International bekannt wurde Esa-Pekka Salonen zunächst als Dirigent, dessen kraftvolle, präzise Schlagtechnik beeindruckt: Man möchte nicht nur den Sacre du printemps von Strawinsky mit ihm am Pult immer wieder sehen und durchleben. Neben seiner Tätigkeit als Orchesterleiter und Orchestererzieher entstanden seit 1980 eine Reihe symphonischer Werke, die sich erfrischend von den skrupulösen mitteleuropäischen, lange Jahre als zu dogmatisch empfundenen Kompositionen abhoben. Darf Neue Musik überhaupt Spaß machen? Kann Neue Musik auch populär sein? Auf diese Fragen, die heute von jungen Komponisten ohne Wenn und Aber bejaht werden, hatte Salonen schon sehr früh positiv geantwortet. Er steht damit gar nicht außerhalb der Tradition, wie man vermuten könnte, denn schon Mozart war für den »musikalischen Spaß« zu haben und alle Klassiker zogen gerne populäre Themen heran, die sie in Variationenzyklen verarbeiteten. Auch ließen sie (Haydn und Beethoven) in ihren Scherzi gern Menuette und Ländlerweisen recht skurril »abnudeln«. Daher ist auch das Credo Salonens, der Musik nicht nur Geist, sondern auch Körper zu geben. Seine kompositorischen Ideen sind voller Sinnlichkeit und Emotionalität, zudem finden sich in ihnen packende Rhythmen und intelligente wie komplizierte Themenverarbeitungen.

Erster Satz: Mirage

Salonen lässt sein einziges Violinkonzert mit dem Solo-Instrument beginnen, so als ob das Stück längst begonnen habe und wir ganz zufällig mitten in diesen Monolog hineingeraten seien, dessen sprudelnde Lebendigkeit uns zunehmend in Bann zieht. Fast ohne Zäsuren entspinnt sich diese Erzählung in Mirage und erinnert an das letzte Kapitel von James Joyces Roman Ulisse: Mollys (Penelopes) Monolog angesichts des endlich heimgekehrten Leopold Blum (Odysseus), in dem sie all ihre Gedanken, Empfindungen und Erlebnisse assoziativ aneinanderreiht im temperamentvollen Redefluss von unterschiedlicher Intensität. Zunächst wirkt der Violin-Part unbeschwert, punktuell von Celesta, Harfe, Vibraphon und Glockenspiel in hellen Farben beleuchtet. Doch diese lichte Passage wird plötzlich durch Bass- und Kontrabass-Klarinette sowie Fagott und Kontrafagott verdüstert, zu denen die Solo-Violine im Fortissimo höchst beunruhigt die Quinte g-d auf leeren Saiten repetiert, um dann auf diesem Akkord quasi zu erstarren. Diese abgründigen, bedrohlichen Farben in den Streichern, verbunden mit schnellen Holzbläserpassagen und der Celesta in Quinten und Quarten, lassen die Solo-Violine zum ersten Mal wie irritiert innehalten, doch bald knüpft sie wieder dort an, wo sie vorher unterbrochen wurde. Die Orchesterinstrumente scheinen gleich einer Kulisse die unterschiedlichen Erzählthemen in sehr reichen Klangfarben zu illustrieren, wobei sich die Spannung durch dramatische Einschübe verdichtet.

Zweiter Satz: Pulse I

Kadenzen der Violine rahmen den zweiten Satz Pulse I, als bräuchte die ruhige Sphäre dieses Satzes eine Art Schutzraum zwischen der lauten, realen Welt der anderen Sätze mit ihren manchmal fast aggressiven Rhythmen. Sehr bildhaft beschreibt Esa-Pekka Salonen die Musik: »Alles ist ruhig und statisch. Ich stelle mir einen Raum vor, Stille. Alles, was du hören kannst, ist der Herzschlag der Person neben dir im Bett, das Geräusch des Schlafens. Du kannst nicht schlafen, aber es herrscht auch keine Angst, nur ein paar sanfte, verwirrende Gedanken in deinem Kopf. Schließlich sind die ersten Strahlen der Sonne durch den Vorhang zu sehen, hier dargestellt von den Flöten."

Pulse I ist daher ein Adagio statico, das zu unterschiedlichen ruhigen Puls- bzw. Herzschlägen einen weiten Klangraum aufspannt, in dem die Solo-Violine - oft beginnend bei Flageoletttönen - in weiten Tonintervallen den ganzen Ambitus des Instruments durchmisst wie ein regelmäßiges tiefes Atemholen. Die Unaufgeregtheit und Kontemplation verleiht dem Satz große Ruhe und Friedlichkeit.

Dritter Satz: Pulse II

Anton Barakhovsy, Konzertmeister des BR-Symphonieorchesters | Bildquelle: Astrid Ackermann Anton Barakhovsky, Solist der Konzert mit dem BR-Symphonieorchester im Oktober 2017 | Bildquelle: Astrid Ackermann Der dritte Satz des Violinkonzerts Pulse II hat Scherzo-Charakter mit einem ständig vorantreibenden Puls, "der hier kein Herzschlag mehr ist" (Salonen). Einzelne rhythmische Pattern werden aneinandergereiht und geben dem Satz in seiner fast groben Forte-Haltung fröhliche Ausgelassenheit ‒ eine Entäußerung des lauten, prallen Lebens. Feine Glissandi wirken wie Freudenausbrüche in einer tosend-tobenden Welt. "Diese Musik ist bizarr und städtisch", schreibt Salonen, sie ist »der Popkultur mit Zügen einer (synthetischen) Volksmusik entlehnt". Daher fügte er auch nur in diesem Satz das in der Pop-Musik so charakteristische Drum-Set ein ‒ ein populäres Signal, sehr passend für ein Scherzo. Der Solist hat ein Folge von Doppel- und Mehrfachgriffen zu bewältigen, die ihn »an seine physischen Grenzen" (Salonen) bringen und im Zusammenspiel mit dem Orchester gleich einem wilden Tanz nachempfunden werden können.

Vierter Satz - Finale: Adieu

Das Finale, zugleich der längste Satz des Violin Concertos, ist ein Abschied ‒ ein Adieu ‒ und hat große Vorbilder in der Musikgeschichte: Man erinnere sich an die Abschiedssymphonie Haydns, an die Les Adieux-Sonate von Beethoven oder an das Schluss-Adagio der Neunten Symphonie von Gustav Mahler, diesen großen Abgesang auf eine vergangene Zeit. "Dies ist kein bestimmter Abschied«, schreibt Salonen über den Schlusssatz seines Violinkonzerts. "Er steht eher im Zusammenhang mit einem sehr ursprünglichen, natürlichen Prozess von etwas, das zu Ende geht, und Neuem, das aus dem Alten hervorgeht. Tatsächlich hat diese Musik etwas sehr Nostalgisches an sich und einige der kurzen Ausbrüche des Orchesters wirken fast gewalttätig."

Das Adieu beginnt wie der erste Satz mit einem Violin-Solo, aber diesmal ist es weniger narrativ denn gesanglich-wehmütig. In dem Moment, in dem sich das Englischhorn mit einer Kantilene hinzugesellt, verändert sich das Violin-Solo zu erregterem, schnellerem Spiel. Fast orientalisch muten die anschließenden Orchesterpassagen an mit ihren langsam schreitenden Rhythmen, dem klingenden Gong, den gestopften Blechbläsern und den rhythmisch parallel geführten Holzbläsern. Salonen lässt gerade immer wieder einzelne Instrumente oder auch Instrumentengruppen mit der Solo-Violine duettieren. Nach dem Englischhorn sind dies u.a. Violen und Violoncelli, Klarinette, Oboe, Flöte und Piccoloflöte, später aber auch die beiden Violingruppen und am Ende Harfe und Bassklarinette sowie Kontrabassklarinette mit Kontrafagott. Wichtig sind Salonen in diesem Satz offenbar weite, sich ständig verändernde Klangflächen, über denen das Solo-Instrument seine Kantilenen ausmusizieren kann. Erkennt der Hörer das Neue, das aus dem Alten hervorgeht, so wie es Salonen formulierte? Dazu merkte der Komponist an: "Als ich den allerletzten Akkord des Stücks niederschrieb, fühlte ich mich verwirrt: Warum klingt der letzte Akkord - und nur dieser - vollkommen anders als alle anderen Harmonien? Als gehörte er zu einer anderen Komposition. Jetzt glaube ich, eine Antwort gefunden zu haben. Dieser Akkord ist der Anfang von etwas Neuem."

Das Adieu erscheint zudem wie eine glitzernde Nachtmusik mit erotisch-träumerischen Einschüben gleich Erinnerungsfetzen und mit harten Brüchen, die den Schmerz des Abschieds erspüren lassen, bis hin zu melancholisch-seufzenden Glissandi. Auch wenn dieses Werk ganz anders aufgebaut und geartet ist als die Orchesterwerke der französischen Impressionisten, so würde man gerade Esa-Pekka Salonens Violinkonzert am ehesten in der Nachfolge Debussys und Ravels, aber auch Strawinskys sehen, so sehr zeigt er sich hier als vollendeter Instrumentator mit immer neuen, überraschenden Klangfarben. Kein Wunder, dass dieses Violin Concerto inzwischen als eines seiner Hauptwerke wahrgenommen wird. Ende Oktober 2017 wird es in der Choreographie von Saburo Teshigawara im Pariser Palais Garnier - nach dem New York City Ballet ein weiteres Mal von Tänzern auf der Bühne umgesetzt.

Esa-Pekka Salonen in München

Freitag, 06. Oktober 2017, 20.00 Uhr
Sonntag, 08. Oktober 2017, 20.00 Uhr
München, Philharmonie im Gasteig

Kaija Saariaho: "Lumière et pesanteur"
Jean Sibelius:
Symphonie Nr. 6 d-Moll, op. 104
Esa-Pekka Salonen:
Violinkonzert
Jean Sibelius:
Symphonie Nr. 7 C-Dur, op. 105
Anton Barakhovsky (Violine)
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Esa-Pekka Salonen

Live-Übertragung auf BR-KLASSIK am 6. Oktober

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