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Von der Provokation zur Resignation Zum 125. Geburtstag von Sergej Prokofjew

Gut Sonzowka im Gouvernement Jekaterinoslaw, Russisches Kaiserreich. Heute: Oblast Donezk, Ukraine. Am 23. April 1891 wird hier Sergej Prokofjew geboren, neben Schostakowitsch und Strawinsky der bekannteste und bedeutendste russisch-sowjetische Komponist des 20. Jahrhunderts. Früh zeigte sich seine Begabung - aber auch sein beinahe provokatives Selbstbewusstsein.

Komponist Sergej Prokofjew | Bildquelle: wikimedia

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Bereits während seiner Studienzeit am renommierten Konservatorium von Sankt Petersburg gilt der eigensinnige Prokofjew als junger Wilder, als "enfant terrible" der Anfang des 20. Jahrhunderts ohnehin progressiven russischen Musikszene. Erste wichtige Werke wie die "Skythische Suite", seine Oper "Der Spieler", die "Sarkasmen" oder die "Visions fugitives" zeigen ein Originalgenie, das das kompositorische Standard-Rüstzeug gelernt hat und virtuos als Grundlage für eigenwillige Klangideen nutzt. Dass Prokofjew zudem auch ein brillanter Pianist ist, fordert die Interpreten seiner zahlreichen Klavierwerke bis heute.

Früher Welthit

junger Sergej Prokofjew | Bildquelle: imago/Leemage Prokofjew als Student | Bildquelle: imago/Leemage Doch schon als junger Mann kann Prokofjew auch ganz "anders" komponieren, wenn er will: dezidiert klassisch, wenn auch mit einem Augenzwinkern - wie in seiner adäquat "Symphonie classique" betitelten Ersten Symphonie, die er 1916, mitten in den Wirren des Ersten Weltkriegs, vollendet. "Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, eine ganze Sinfonie ohne Klavier zu komponieren", äußert sich Prokofjew über das Werk. "Ich glaubte, das Orchester würde natürlicher klingen. So entstand in mir der Plan zu einer Symphonie im Stile Haydns. Ich war der Ansicht, dass Haydn, wenn er in unserer Zeit gelebt hätte, seinen eigenen Stil, vermehrt um einiges Neues, beibehalten haben würde." Bis heute ist diese verspielte "Symphonie classique" ein Gassenhauer und eins der Stücke, die praktisch losgelöst von ihrem Schöpfer funktionieren: im Konzertsaal, im Film, sogar in der Werbung. Prokofjew selbst hätte das gefallen - er war selbstbewusst genug, um seine Qualität zu kennen, unideologisch genug, um nicht in Schubladen zu denken, und eitel genug, um im Erfolg zu baden.

Flucht vor der Oktoberrevolution

Sergej Prokofjew ist 26 Jahre alt, als in Sankt Petersburg die Oktoberrevolution ausbricht und sich die politischen Verhältnisse in Russland radikal verändern. Krasser kann ein Paradigmenwechsel nicht sein, als vom russischen Zarenreich zur kommunistischen Sowjet-Politik Wladimir Lenins. Und trotzdem überrascht der junge Komponist mit großer Neugier an avantgardistischen musikalisch-kulturellen Strömungen schon damals mit lauer, teilnahmsloser politischer Haltung: "Ich hatte nicht die leiseste Ahnung von dem Zweck und der Bedeutung der Oktoberrevolution. Daher wurde meine Absicht, nach Amerika zu fahren, immer fester. Ich glaubte, dass Russland in dieser Zeit keine Bedarf an Musik hätte, wogegen ich in Amerika viel lernen und überdies manche Leute für meine Musik interessieren könnte."

Sein Querdenkertum zeigt sich fast ein ganzes Musikerleben lang in seinen Werken, im Leben hingegen wird Sergej Prokofjew immer wieder Entscheidungen treffen, die entweder von großer Naivität oder von großer Egozentrik zeugen. Ein Freund mahnt ihn damals: "Du rennst von der Geschichte davon, und das wird dir die Geschichte nie verzeihen. Wenn du zurückkommst, wird man dich nicht verstehen." Nichts kann ihn halten, am 7. Mai 1918 verlässt Prokofjew die Sowjetunion und erreicht im September sein Ziel: die USA.

Europa und Amerika

"Der feurige Engel" von Sergej Prokofjew an der Bayerischen Staatsoper | Bildquelle: Wilfried Hösl "Feuriger Engel" Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper 2015 | Bildquelle: Wilfried Hösl Die Jahre von 1918 bis 1936 verbringt Sergej Prokofjew in Amerika und Europa. Für die Oper von Chicago schreibt er 1919 eines seiner erfolgreichsten Bühnenwerke: die Oper "Die Liebe zu den drei Orangen" nach einem Theaterstück von Carlo Gozzi. Zeitweise lebt er im oberbayerischen Ettal, wo er an seiner nächsten Oper "Der Feurige Engel" arbeitet, einem düster-exzentrischen Stück, dem Kontrastprogramm zu der Orangen-Groteske. Wo er die 3. und 4. Symphonie schreibt, Klavierkonzerte  und -sonaten, Kammer- und Ballettmusik. 1927, neun Jahre nach der freiwilligen Emigration in den Westen, dann der erste Kontakt mit der Sowjetunion. Lenin ist bereits tot, Trotzkij entmachtet, Josef Stalin hat gerade seine Alleinherrschaft etabliert. Sergej Prokofjew begibt sich auf Konzerttournee in die ehemalige Heimat. Er wird darüber sein "Sowjetisches Tagebuch" schreiben, noch heute ein faszinierendes biographisches Dokument.

Kontakte in die Sowjetunion

Die Reise verläuft perfekt, Prokofjew hat überall Erfolg, wird hofiert, mit Sonderstatus bedacht. Genießt den Ruhm, genießt auch die Heimat, die alten und neuen Freunde, Begegnungen. Trotzdem ist ihm im lettischen Riga vor dem Grenzübertritt nicht ganz wohl: "Wir kehrten zurück ins Hotel, packten unsere Sachen und begaben uns zum Bahnhof, um nach Bolschewisien zu fahren", schreibt der Komponist. Die Gedanken rotierten: Sollte ich nicht auf alles pfeifen und hierbleiben? Unsicher, ob du von da wieder zurückkommst oder sie dich überhaupt wieder weglassen."

1933 folgen zwei weitere Reisen in die UdSSR, die Kontakte werden enger, der erste offizielle Sowjet-Auftrag steht an: der Leningrader Regisseur Aleksandr Fajntsimmer bestellt bei Prokofjew eine Musik zu seinem Film über "Leutnant Kishe". Eine Farce über die ausufernde Bürokratie unter Zar Paul I., die bald in Vergessenheit gerät. Übrig bleibt die Filmmusik-Suite von 1934 - lange Prokofjews bekanntestes Stück, das bis heute inspiriert, und zwar Popmusker wie Filmregisseure gleichermaßen: Sting, Emerson, Lake and Palmer, Woody Allen.

Zurück in die Heimat

Mitte der 1930er Jahre wird die Situation für Sergej Prokofjew immer zwiespältiger. Seine Erfolge in Amerika und Westeuropa lassen zu wünschen übrig, die intensiveren Kontakte in die Sowjetunion steigern die Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln. Auch, wenn Josef Stalins terrorgeplagte UdSSR 1936 nicht mehr viel mit dem zaristischen Russland Anfang des 20. Jahrhunderts zu tun hat - Sergej Prokofjew zieht es zurück in die Heimat. "Fremde Luft bekommt meiner Inspiration nicht, denn ich bin Russe, und wir sind wohl am wenigsten geeignet für ein Leben im Exil, für ein Leben in einem psychologischen Klima, das nicht das meiner Rasse ist. Ich muss zurückgehen. Ich muss mit Menschen sprechen, die mein eigen Fleisch und Blut sind, und die mir etwas zurückgeben können, was ich hier vermisse: ihre Lieder, meine Lieder."

Sergej Prokofjews Rückkehr in die totalitäre Sowjetunion auf dem Höhepunkt der Stalinistischen Säuberungen um das Jahr 1936 ist wohl eine der fragwürdigsten Entscheidungen, die ein Komponist im 20. Jahrhunderts getroffen hat. Viele Zeitgenossen haben dazu Stellung bezogen, manche reagierten mit Verständnis, die Mehrheit mit Ungläubigkeit und Kopfschütteln. Was hat den erfolgreichen und etablierten Prokofjew zu diesem Schritt in die künstlerische und gesellschaftliche Unfreiheit bewogen? Politische Naivität? Der Glaube, als rückkehrender Exilant und "verlorener Sohn" ein Sonderfall zu sein? Ahnungslosigkeit? Desinteresse? Kalkül? Igor Strawinsky äußerte sich drastisch: “Seine Rückkehr war ein Opfer an die Huren-Göttin und nichts anderes!”. Musikwissenschaftler Victor Seroff schätzt die Entscheidung als eine rationale ein: “Prokofjew war absolut vertraut mit den politischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen in Russland. Er wusste, was er tat. Er hatte sorgfältig das Für und Wider abgewogen.”

Und so landete er wie ein Huhn in der Suppe.
Dmitrij Schostakowitsch

Die produktiven 40er Jahre

Unterschrift von Sergej Prokofjew auf der Partitur zu "Krieg und Frieden" | Bildquelle: imago/Leemage Unterschrift von Sergej Prokofjew auf seiner Partitur zu "Krieg und Frieden" | Bildquelle: imago/Leemage Erst 1948, ein Jahrzehnt nach der Rückkehr, sollten die Bedingungen für Prokofjew existentiell bedrohlich werden. 1944 war mit der Komposition seiner 5. Symphonie die eigene Welt trotz Krieg und Evakuierung noch weitestgehend wenn nicht heil, so doch intakt. Er schrieb das Werk in Ivanovo in der Nähe von Moskau, wohin der sowjetische Komponistenverband seine künstlerische Nomenklatura während des Krieges untergebracht und ihr ein fast normales Arbeitsleben ermöglicht hatte. Für Prokofjew sind die 1940er Jahre eine der produktivsten Phasen seines Künstlerlebens. Er komponiert Meisterwerke wie das Ballett "Cinderella", die Oper "Krieg und Frieden" nach Leo Tolstojs Roman, die Film-Musik zu Sergej Eisensteins Monumentalwerk über den Zaren Iwan den Schrecklichen, die Klaviersonaten 6 bis 9. Und - als Reaktion auf den 2. Weltkrieg - Werke mit eindeutiger Thematik: etwa eine "Ode auf das Ende des Krieges" oder die Orchestersuite "Das Jahr 1941".

Der Schauprozess von 1948

Die Komponisten Sergei Prokofjew (1891-1953), Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) und Aram Chatschaturjan (1903-1978) | Bildquelle: Fine Art Images/Süddeutsche Zeitung Photo Die Komponisten Sergei Prokofjew (1891-1953), Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) und Aram Chatschaturjan (1903-1978) | Bildquelle: Fine Art Images/Süddeutsche Zeitung Photo Zuckerbrot und Peitsche – nach dieser Devise verfuhr die Kulturbürokratie der UdSSR mit all ihren großen Künstlern, deren Eigensinn und unangepasste Kreativität immer wieder durch kleinere und größere Schikanierungen und Bedrohungen kontrolliert werden sollte. Dmitrij Schostakowitsch hatte 1936 mit der Attacke gegen seine Oper "Lady Macbeth von Mzensk" den bis dahin nachhaltigsten Schlag versetzt bekommen, freilich zugleich eine Mahnung an alle Kollegen. 1948 in einem zweiten Rundumschlag waren dann alle dran: Schostakowitsch, Chatschaturjan, Mjaskowskij und Prokofjew. Das ZK der KPdSU erließ einen Beschluss, darüber, wie klassische Musik zu klingen habe, wenn sie der plakativen sowjetischen Ideologie und Propaganda nutzen solle. Prokofjew als ehemaliger Exilant stand besonders im Fokus. Ihn trifft der öffentliche Schauprozess hart, seine angeschlagene Gesundheit macht ihm ohnehin zu schaffen, die Widerstandskraft, der Esprit schwinden. Was er in den letzten Jahren seines Lebens komponiert - Werke wie die 7. Symphonie oder das Ballett "Märchen von der steinernen Blume" -, ist von Altersmilde und Resignation, Kritiker sagen: von wenig Biss und Kreativität geprägt. Trotzdem schreibt Prokofjew auch am Ende seines Lebens große Musik, wie 1950 die "Sinfonia concertante" - eine Umarbeitung seines frühen Cellokonzerts e-Moll.

Das Ende

Der 5. März 1953 ist ein historischer Stichtag in der sowjetrussischen Geschichte. Josef Stalin stirbt. In Moskau, in der kompletten UdSSR herrscht tagelang der Ausnahmezustand. Der Pianist Swjatoslaw Richter erinnert sich: "Auf den offiziellen Todestag Stalins folgten vier Tage der Trauer. Am letzten Trauertag standen Punkt zwölf Uhr in der gesamten Sowjetunion alle Räder still, und die Fabriksirenen heulten drei Minuten lang im Gedenken an den Staatschef. Die Trauerfeierlichkeiten wurden nur dadurch gestört, dass Hunderte zu Tode getrampelt wurden, als die Menschen scharenweise Stalins feierlich aufgebahrten Leichnam sehen wollten."
Von der Öffentlichkeit gänzlich unbemerkt und im Schatten des gigantischen Abschiedsspektakels um einen der grausamsten Diktatoren der Weltgeschichte starb fast zur selben Stunde an jenem denkwürdigen 5. März noch ein Sowjetbürger, an den Folgen seiner schwachen Gesundheit, nach einem Sturz: der Komponist Sergej Prokofjew. Berichten zufolge ließen sich nicht einmal mehr Blumen für sein Grab finden…

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