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Zu Richard Strauss' "Alpensinfonie" "Anbetung der ewigen, herrlichen Natur"

Im August 1879 unternahm der 15-jährige Richard Strauss von Murnau aus eine Bergtour auf den 1800 m hohen Heimgarten. Bereits in der Nacht brach er auf, um den Sonnenaufgang auf dem Gipfel erleben zu können. Beim Abstieg geriet er in ein Gewitter und erreichte erst am Abend einen Bauernhof, in dem er übernachten konnte. Anschließend schrieb er an seinen Freund, den Komponisten Ludwig Thuille: "Die Partie war bis zum höchsten Grade interessant, apart u. originell. Am nächsten Tage habe ich die ganze Partie auf dem Klavier dargestellt. Natürlich riesige Tonmalereien u. Schmarrn (nach Wagner)".

Alpenpanorama bei Garmisch | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Dieser "Schmarrn" hat Strauss allerdings noch lange beschäftigt: Erste Skizzen zu einer symphonischen Verarbeitung der Bergwanderung reichen bis in das Jahr 1900 zurück. Von 1902 datieren Pläne zu einem viersätzigen Werk "Der Antichrist, eine Alpensinfonie". Es sollte vier Sätze umfassen, von denen der erste die Stationen der Bergtour wiederspiegelt: "Nacht: Sonnenaufgang / Aufstieg: Wald (Jagd) /Wasserfall (Alpenfee) / blumige Wiesen (Hirte) / Gletscher / Gewitter / Abstieg und Ruhe." Die Bezeichnungen der weiteren geplanten Sätze lauten: "Ländliche Freuden: Tanz, Volksfest / Prozession", "Träume und Gespenster (nach Goya)" und "Befreiung durch die Arbeit: das künstlerische Schaffen. Fuge".

Von Nietzsche beeinflusst

Der Titel "Der Antichrist" bezieht sich auf Friedrich Nietzsches gleichnamige Schrift, die 1888 erschienen war, und in der es heißt: "Man muß rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte ... Man muß geübt sein, auf Bergen zu leben – das erbärmliche Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehen." Strauss fühlte sich von Nietzsches Gedankengut von jeher angezogen; die Tondichtung "Also sprach Zarathustra" bildet das bekannteste musikalische Beispiel seiner Verehrung für den Philosophen. Vor allem Nietzsches Ablehnung des Christentums teilte der Komponist ein Leben lang, da es den Menschen von der Eigenverantwortung für sein Handeln entzöge. 1911, anlässlich des Todes Gustav Mahlers, notierte Strauss in sein Tagebuch: "Der Jude Mahler konnte im Christentum noch Erhebung gewinnen. Der Held Rich. Wagner ist als Greis, durch den Einfluß Schopenhauers wieder zu ihm herabgestiegen. / Mir ist es absolut deutlich, daß die deutsche Nation nur durch die Befreiung vom Christentum neue Tatkraft gewinnen kann. Sind wir wirklich noch weiter als zur Zeit der politischen Union Karls V. u. des Papstes? / Ich will meine Alpensinfonie: den Antichrist nennen, als da ist: sittliche Reinigung aus eigener Kraft, Befreiung durch die Arbeit, Anbetung der ewigen herrlichen Natur."

In 100 Tagen orchestriert

Villa von Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen | Bildquelle: picture-alliance/dpa Richard Strauss' Villa in Garmisch | Bildquelle: picture-alliance/dpa Strauss, der sonst leicht und schnell schuf, tat sich schwer mit der Komposition der "Alpensinfonie". 1911, nach der Vollendung des ""Rosenkavaliers", begann er mit der Arbeit daran; in diesem Jahr schrieb er an Hugo von Hofmannsthal: "Ich warte auf Sie und quäle mich inzwischen mit einer Symphonie herum, was mich aber eigentlich noch weniger freut wie Maikäfer schütteln." Es dauerte einige Jahre, bis er das Manuskript abgeschlossen hatte; er instrumentierte die Partitur dann aber innerhalb von genau 100 Tagen – vom 1. November 1914 bis 8. Februar 1915. Vom ursprünglichen viersätzigen Konzept war jetzt nur noch der erste Satz übriggeblieben. Aber den Untertitel "Der Antichrist" hatte Strauss bis kurz vor Schluss geplant; dass er ihn letztlich fallen ließ, mag damit zusammenhängen, dass er auf sein Amt als preußischer Hofkapellmeister Rücksicht nehmen musste. Am 28. Oktober 1915 dirigierte der Komponist die Uraufführung seiner "Alpensinfonie" in Berlin; es spielte die Hofkapelle Dresden, der das Werk auch gewidmet ist.

Künstlerische Sublimierung seelischer Reflexe

In geschmacklich korrekt sich dünkenden Kreisen war es lange Zeit en vogue, über die "Alpensinfonie" die Nase zu rümpfen; erst in letzter Zeit beginnt sich dies zu ändern. Man warf Strauss plattesten Naturalismus vor, mokierte sich zudem über die Verwendung von Geräuschinstrumenten aus dem Fundus der Theatermusik: Windmaschine, Donnermaschine, Herdenglocken – letztere kommen bei Mahler zwar auch vor, doch dort scheinen sie niemanden zu stören. Durch Äußerungen wie "Ich hab' einmal so komponieren wollen, wie die Kuh die Milch gibt" goss Strauss noch zusätzlich Wasser auf die Mühlen der Verächter seiner "Alpensinfonie". Doch letztlich werden deren Vorwürfe durch das innere Programm, wie es sich in den Tagebuchaufzeichnungen manifestiert, entkräftet. Auch wenn illustrative Momente in der Tat nicht selten sind, war jedoch für Strauss "die künstlerische Sublimierung seelischer Reflexe" (Stephan Kohler) weit wichtiger als die photographische Abbildung realer Bilder und Ereignisse.

Sinnfällige Struktur

Richard Strauss | Bildquelle: Richard Strauss Institut/Bearbeitung: BR Richard Strauss | Bildquelle: Richard Strauss Institut/Bearbeitung: BR Die Instrumentation sprengt in der Tat fast sämtliche Dimensionen – alles in allem werden über 120 Musiker verlangt –, doch kommt sie nur ganz selten massiert zum Einsatz. Im Gegenteil: Oft ist der Eindruck ein geradezu kammermusikalischer, etwa in der enorm suggestiven Passage vor dem Gewitter. Und nicht zuletzt beeindruckt die äußerst gekonnte und konzise Anlage des Werks – mit einer fast spiegelsymmetrischen Struktur: Mit Beginn des Abstiegs kehren einzelne Stationen in umgekehrter Reihenfolge wieder, und die "Alpensinfonie" endet, wie sie begann: mit der "Nacht". Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass einige Passagen auch für heutige Ohren noch erstaunlich modern klingen: So erscheint am Anfang und am Schluss – und auch zu Beginn des Abschnitts "Gewitter und Sturm" – ein veritabler Cluster: Alle Noten der b-Moll-Tonleiter werden sukzessive intoniert und ausgehalten.

Moderner als die Avantgarde?

Diese Modernität und überhaupt der exzeptionelle Charakter der "Alpensinfonie" wurden von jemandem anerkannt, den man, wenn man es nicht wüsste, nicht unbedingt für einen Apologeten dieses Werks halten würde: Helmut Lachenmann, als Komponist Vertreter einer streng avantgardistischen Grundhaltung. Zur Gewittermusik der "Alpensinfonie" sagt er: "Die beklommen-schwüle Stille vor der Entladung bewirkt eine fast körperlich drückende Zeiterfahrung. Wo hat das irgendein Komponist wieder erreicht? Auch das Gewitter selbst trotz der Riesenbesetzung höchst ökonomisch komponiert. Aufschlussreich, vielleicht verräterisch ist, wie der Wanderer, vom Sauwetter überrascht, ins Tal flüchtet. (...) Und schließlich im Tal, vielleicht beim Aufwärmen seiner Villa in Garmisch, glücklich angekommen: der Dankgesang eines Herabgestiegenen – oder Heruntergekommenen? Bei allem Spaß an der Ironie: Wir sind vielleicht mit dem Kopf darüber hinweg, aber nicht mit unserem Unterbewussten. Und wir starren herablassend auf das Programm und übergehen die Intensität dieser Musik als Struktur, vor deren Reichtum unsere zeitgenössischen Klangfarbeningenieure alt aussehen."

Gesunde Selbsteinschätzung

Richard Strauss selbst hat seine sinfonische Alpentour stets hochgeschätzt; er dirigierte sie bis ins hohe Alter und nahm sie auch für die Schallplatte auf. Noch 1948 schrieb er an einen jungen Dirigenten: "Viel Vergnügen zur Alpensinfonie, die ich auch besonders liebe. Sie ist, seit einige Schreiberlinge wie Paul Bekker in der 'Vision' biblische Metaphysik vermißt haben, die mir übrigens auch in der Pastorale zu fehlen scheint (der badende Beethoven hatte zu beten vergessen), von der hohen Intelligenz stets unterschätzt worden. Sie klingt allerdings auch zu gut!"

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