Es war heiß im August 1876, als die ersten Bayreuther Festspiele stattfanden. Die Nerven lagen bei allen Beteiligten blank, denn niemals zuvor hatte eine Opernproduktion soviel Publicity bekommen. Zwei Kaiser und zwei Könige hatten sich angesagt, und der berühmteste und umstrittenste Künstler der Welt wollte nichts weniger als sein Lebenswerk krönen. So erwies sich Wagner, in seinem erst fertiggestellten Festspielhaus auf dem Grünen Hügel, als überaus temperamentvoller Regisseur.
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Im Mai 1876, knapp drei Monate vor den ersten Festspielen, erreicht eine Schreckensmeldung den grünen Hügel: Der Drache ist unvollständig. Das Untier wurde in London gefertigt, doch der Hals fehlt. Singende Drachen sind an sich schon eine gewisse Herausforderung an den guten Willen des Publikums, in einem mythischen Gesamtkunstwerk jedoch immerhin vorstellbar. Aber singende Drachen ohne Hals? Das gute Stück ist auf dem Transportweg abhandengekommen, wurde versehentlich nach Beirut verschifft, nicht nach Bayreuth. So wird der Drachenkopf schlecht und recht auf den Rumpf montiert. Das Ergebnis: eine Art Kreuzung aus Eidechse und Stachelschwein, das die Augen verdrehen, das Maul aufsperren und mit dem Schwanz schlagen kann.
Kurz darauf beginnen die Bühnenproben. Wagner sitzt vorne an der Rampe an einem Tischchen, vor ihm die schwere Partitur, beleuchtet von einer Petroleumlampe. Hans Richter dirigiert, doch Wagner bewegt sich dazu so heftig mit Armen und Beinen, dass alle fürchten, er werde Tisch und Lampe umschmeißen und alles in Flammen aufgehen lassen. Ein aufmerksamer Assistent verschraubt den Tisch am Bühnenboden.
Wenn ihr nischt so langweilige Kerle wärt, wären wir hier in einer Stunde fertig!
August 1876: Die Rheintöchter v.li. Minna Lammert (Floßhilde), Lilli Lehmann (Woglinde) und Marie Lehmann (Wellgunde) | Bildquelle: picture alliance / akg Das ganze "Rheingold" in einer Stunde, das ist unmöglich zu schaffen und wohl auch nicht ganz ernst gemeint, aber rasch will es Wagner: "Elende Bummelei, da macht doch vorwärts." Währenddessen herrscht in der Festspielkasse bedrohliche Ebbe. Kurz darauf bekommt Wagner ein Zahngeschwür, und die Rheintöchter haben nichts Besseres zu tun, als mit ihrem Schwimmgestell zu hadern. Die Sängerinnen müssen es über eine Leiter erklimmen, auf dem Bauch liegend singen und dabei mit den Armen rudern. Sie weigern sich. Ihnen sei schwindlig. Schließlich erscheint Wagner, einen kalten Umschlag über die furchterregend dicke Backe gebunden, und scheucht die Damen hinauf. Ein Mann sitzt am Steuer des fahrbaren Schwimmgestells, einer kurbelt die Rheintöchter mittels einer Hebevorrichtung auf und ab, und Wagners Assistent Felix Mottl gibt, versteckt zwischen den gemalten Wellenbergen, die Einsätze. Lilli Lehmann, die Wellgunde, schreibt in ihren Erinnerungen: "Noch immer höre ich Floßhildens Ruf 'Mottl, ich spucke Ihnen auf den Kopf, wenn sie mich nicht ruhig halten!'"
Unentwegt springt Wagner zwischen den Sängern herum. Er reißt ihnen die Requisiten aus der Hand, übernimmt mehrere Rollen gleichzeitig, singt und spielt alles vor: Sopran, Bass, Bariton, Walküre, Zwerg und Gott. Als Siegmund und Sieglinde sich nicht heftig genug küssen, wirft er sich dem großgewachsenen Siegmund kurzerhand selbst an Hals, wobei er mit den Fußspitzen kaum noch zum Boden reicht.
Szene von der Eroeffnung der Bayreuther Festspiele am 13. August 1876 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Dem Sänger des Mime ruft Wagner zu: "Das ist noch zu fade! Nu kratzen Sie sich mal ordentlich am Kopfe wie ein garstiger Zwerg! Und streichen sie sich über den Rücken! So!" Der Sänger ist ein wenig gehemmt, außerdem habe er gestern alles ganz anders machen sollen. Da ruft der Meister wütend: "Sie können das Streichen des Rückens schon weiter ausdehnen und sich ruhig auch herzhaft den Arsch streichen. Die Piccolo-Flöte hat ohnedies so verdächtige Trillerchen." Bei diesen Worten verlässt Cosima Wagner kommentarlos das Theater. Ihr Mann hat derweil einen Disput mit einem österreichischen Sänger begonnen, mit dessen Aussprache er nicht zufrieden ist, und herrscht ihn in breitestem Sächsisch an:
Habt denn Ihr Österreicher jeden Sinn für die deutsche Sprache verloren?
Dr. Ludwig Strecker, der Leiter des Schott-Verlags, erinnert sich: "Wagner anfangs rasend, warum weiß ich nicht. Schrie, lief mit geballten Fäusten herum, stampfte mit den Füßen. Dann nahm er plötzlich Siegfrieds Horn, hielt es vor den Kopf und rannte dem eben ankommenden Professor Doepler vor den Bauch."
1872 veröffentlichte der Münchner Psychiater Dr. Theodor Puschmann eine Studie, in der er an Wagner alle Symptome einer Geisteskrankheit diagnostizierte. Das Pamphlet war sofort vergriffen, auch eine zweite Auflage verkaufte sich glänzend. Doch Wagner selbst wusste es besser. Wenn er verrückt war, dann war es der ganz normale Wahnsinn der Kreativität, woran er litt. In einem ruhigen Moment hat er sich erstaunlich hellsichtig analysiert:
Wenn ich den Zustand, in dem ich jetzt normal bin, empfinde, kann ich nicht anders, als meine Nerven für ruiniert halten. Wunderbarerweise aber tun mir diese Nerven, wenn es gilt und mir schöne Anregungen kommen, die wundervollsten Dienste. Ich bin dann von einer Hellsichtigkeit, von einer Wohlempfindung des Erfahrens und Produzierens, wie ich früher es nie gekannt hatte. Soll ich nun sagen, meine Nerven sind ruiniert? Ich kann’s nicht. Ich sehe nur, daß der meiner Natur normale Zustand die Exaltation ist. In der Tat fühle ich mich nur wohl, wenn ich 'außer mir' bin. Dann bin ich ganz bei mir.