Wir beginnen mit Superlativen: Die "Kreisleriana" ist einer der berauschendsten, poetischsten, verwegensten Klavierzyklen des 19. Jahrhunderts. Geistiger Pate hinter Robert Schumanns Komposition von 1838 war der Schriftsteller E.T.A. Hoffmann mit seiner wundersamen Figur vom Kapellmeister Kreisler. Die Herausforderung für jede Pianistin und jeden Pianisten besteht darin, die Gegensätze dieser acht Sätze einerseits völlig ungeschminkt herauszuarbeiten, andererseits aber auch eine durchgehende gedankliche Linie zu entwerfen. Das gelingt den Interpreten unterschiedlich gut.
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Zu einer Zeit, als filmische Musik-Dokumentationen nur als Vision am Horizont schwebten, hat der französische Pianist Alfred Cortot die erste bedeutende Gesamteinspielung von Schumanns "Kreisleriana" vorgelegt: aufgenommen 1935 in den berühmten und erst wenige Jahre zuvor eröffneten Produktionsstudios der EMI in der Londoner Abbey Road. Cortot deutet Schumann aus dem geistigen Erbe des 19. Jahrhunderts heraus. Sein Umgang mit kleinen Verzögerungen wirkt aus heutiger Sicht vielleicht ungewöhnlich, doch das "Fantasieartige" bedeutete bei ihm immer auch ein Spiel mit gestalterischen Freiheiten.
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Schumann - Kreisleriana - Cortot 1935
Das Fernsehen war damals zwar nicht live dabei, aber die meisten Rundfunkanstalten: Sie übertrugen die triumphale Rückkehr des Vladimir Horowitz nach Deutschland direkt in die heimischen Wohnzimmer. Am 18. Mai 1986 spielte der über 80-jährige Horowitz in der Berliner Philharmonie Schumanns "Kreisleriana". Schon die Eröffnungstakte zeigen, dass nicht jeder Ton seine angedachte Stelle fand. Als Horowitz dann aber, rund 24 Minuten später, den Schlusssatz anstimmte, hatte er sich und seine Form wiedergefunden. Wie er mit den Bassfiguren umgeht, steht in der Diskografie für sich. Die Vorgabe "durchaus leicht und frei" führt dazu, dass nach wenigen Takten die Bassoktaven (ohnehin zeitlebens eine Domäne von Horowitz) eine Art Eigenleben zu führen beginnen, scheinbar losgelöst von den spielerisch-kecken Figuren der rechten Hand. Verglichen mit älteren Live-Mitschnitte und zwei Studio-Produktionen mit Horowitz ist dieser Berliner Mitschnitt, auch wegen der historischen Umstände, der am meisten mit Sentimentalität oder Nostalgie behaftete.
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Kreisleriana, Op. 16 (Live)
András Schiff befragt die Musik auf ihre Show-Möglichkeiten hin. Er sucht nach Inhalt und Charakter, nach Form und Sinnlichkeit, nach gesanglichen Linien und Intimität. Das gilt auch für seine Darstellung der "Kreisleriana". Rund sechs Jahre vor seiner Studio-Produktion für das damalige Teldec-Label hat András Schiff sich bei einer Aufführung von Schumanns "Kreisleriana" von der Kamera begleiten lassen. Was hier in Details vielleicht noch ein wenig vorsichtig anmutet, wird sich bis zur CD-Aufnahme weiter verfestigen. Schiff erweist sich auch in der Video-Produktion als ein Pianist, den die kühn-virtuose Seite des Zyklus kalt lässt. Er nimmt vor allem den poetischen Gehalt ins Visier. Es ist ein dem Liedhaften abgelauschter Zauber, womit Schiff überzeugt. Keine Mätzchen, keine überhitzten Tempi. Manchem mag das vielleicht als eher konventionell oder brav erscheinen, doch sein Spiel lebt von einer Natürlichkeit, als könne und solle es nur so sein.
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András Schiff plays Schumann's Kreisleriana and Études Symphoniques
Russische Pianisten haben zur "Kreisleriana" ein offenbar sehr unterschiedliches, oft auch sehr eigenes Verhältnis. Das zeigt auch Denis Matsuev, der das Werk bislang nicht auf CD dokumentiert hat. Vom Oktober 2015 stammt ein als DVD veröffentlichter Konzertmitschnitt aus dem Amsterdamer Concertgebouw. Es ist ein rustikaler, kühner, virtuoser Schumann, den man hier hören kann, entschlossen und energisch. Umso größer ist jedes Mal die Wirkung, wenn Entspannung einsetzt. An energischem Zugriff mangelt es dieser Aufnahme nicht, bis hin zu einzelnen Ruppigkeiten. Doch Matsuev ist viel zu klangsensibel, als dass er nicht weiß, wo er übers Ziel hinausschießen würde. Dennoch kennt sein Schumann Momente, die sich an der Grenze bewegen, Momente, die den Eindruck erwecken, man höre ein Stück von Franz Liszt.
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Denis Matsuev: Schumann - Kreisleriana (Royal Concertgebouw, 2015)
Wer einmal Daniil Trifonov live im Konzert mit der "Kreisleriana" erlebt hat, wird zugeben müssen, dass ein Video-Dokument immer nur einen Teil dessen einfängt, was sein Spiel auszeichnet: die Aura des Außergewöhnlichen. Doch allein ein Blick in seine Mimik bei diesem Auftritt in der New Yorker Carnegie Hall verrät, wie sehr er dieses Werk als ein ständiges Hin und her von Extremen empfindet. Trifonov gelingt es mit seinem zauberhaften Anschlag, die leisesten Töne des Flügels sprechen zu lassen und im großen Rausch dennoch eine gewisse Ordnung zu wahren. Trifonov "orchestriert" diese Musik auf herausragende Weise. Über jeden Takt könnte man bewegt diskutieren, Trifonov zeigt, was diese Musik ist: eine knapp halbstündige Grenzerfahrung. Insgesamt ist dieser Mitschnitt, von allen mit bewegtem Bild verfügbaren, der faszinierendste, schillerndste, auch wenn sich die Aura eines Live-Erlebnisses mit Trifonov hier nicht vollständig einfangen lässt. Doch spiegelt dieser Mitschnitt eine Hingabe, die bei aller sichtbaren physischen Verausgabung nicht von der mitreißenden Interpretation ablenkt. Ein bisschen vom Kapellmeister Kreisler steckt wohl auch in Trifonov selbst.
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Daniil Trifonov plays Schumann - Kreisleriana Op. 16
Sendung: "Interpretationen im Vergleich" am 16. Februar 2021 ab 20:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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