Ein Meisterwerk muss nicht unbedingt vollendet sein - das gilt auch für Musikstücke. Einige Kompositionen, die lediglich als Fragment hinterlassen wurden, sind aus den Spielplänen der Konzertsäle und Opernhäuser nicht wegzudenken. Wir stellen Ihnen die wichtigen vor.
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Die 19. Fuge von Bachs Klavierzyklus "Die Kunst der Fuge", ist eine Quadrupelfuge, die bei Takt 239 abbricht und als Fragment überliefert wurde. Nach Bachs Tod schrieb sein Sohn Carl Philipp Emanuel Bach auf das unvollendete Manuskript dieser umfangreichen Schlussfuge an die Stelle, wo der Name BACH in Noten erscheint: "Über dieser Fuge, wo der name B.A.C.H. im Contrasubject angebracht wurde, ist der Verfasser gestorben." Die Forschung zeigte später, dass die "Kunst der Fuge" nicht Bachs letztes Werk vor seinem Tod war.
Nach dem "Wozzeck" komponierte Alban Berg seine zweite Oper "Lulu", die jedoch im dritten Akt unvollendet blieb, da der Komponist - lediglich 50-jährig - an den Folgen einer Blutvergiftung starb. Posthum wurde das Fragment 1937 am Opernhaus Zürich uraufgeführt. Friedrich Cerha stellte die Oper fertig; 1979 war die "Lulu" an der Pariser Opéra Garnier unter der Leitung von Pierre Boulez in dieser Fassung erstmals zu hören.
Anton Bruckner | Bildquelle: Walter Abendroth: Bruckner. Eine Bildbiographie, München 1958 Auch die letzte Symphonie von Anton Bruckner blieb unvollendet. Nach dem Abschluss der ersten drei Sätze zog sich die Arbeit am Finale mehrere Jahre lang hin. Einer der Gründe, warum dies so lange dauerte, war der stetig sich verschlechternde Gesundheitszustand des Komponisten, ein anderer seine fast manische Unsicherheit, die ihn dazu brachte, eine ganze Reihe bereits fertiggestellter Werke nochmals zu bearbeiten. Die Vollendung seiner 9. Symphonie, die er dem "lieben Gott" widmen wollte, war Bruckner nicht vergönnt. Es liegen aber mehrere posthume Komplettierungen von fremder Hand vor.
Mehrere Werke Mahlers waren bei seinem Tod im Mai 1911 noch nicht uraufgeführt - etwa das "Lied von der Erde" oder die Symphonie Nr. 9. Nur wenige Menschen jedoch wussten, dass auch noch eine Zehnte Symphonie in der Schublade lag. Mahlers Witwe Alma bat namhafte Komponisten um Vollendung des Torsos, dessen kompletter Verlauf aus den Skizzen ablesbar war. Arnold Schönberg und Dmitrij Schostakowitsch lehnten ab; erst Ernst Krenek fertigte eine Partitur des ersten Satzes an, der so gut wie komplettiert vorlag. Dieser Satz, der die Klangsprache der Neunten fortführt, wird heute oft alleinstehend aufgeführt. Doch es gibt auch noch eine komplettierte Fassung, die der englische Muskwissenschaftler Deryck Cooke erstellte und die 1964 erstmals vollständig erklang. Cookes Version ist keine Vollendung, sondern eine Aufführungsfassung der kompositorischen Skizzen, wie sie beim Tod Mahlers vorlagen - und als solche ein faszinierender Blick in die Werkstatt eines muskalischen Genies.
Mozart am Klavier, 1789. Unvollendetes Ölgemälde von Joseph Lange | Bildquelle: picture-alliance/dpa Zahlreiche Mythen ranken sich um die Entstehungsgeschichte eines der beliebtesten Werke von Mozart, das Requiem. Unter ungewöhnlichen Umständen wurde es beim Komponisten in Auftrag gegeben, und wegen Mozarts mysteriösen frühen Todes am 5. Dezember 1791 kam es nicht zur Vollendung. Mozart hinterließ für das Requiem den Eröffnungssatz in Orchester- und Vokalstimmen, das Kyrie und einen großen Teil der Dies-irae-Sequenz mit beziffertem Bass, einige Skizzen wichtiger Orchesterpartien sowie acht Takte des Lacrimosa. Mozarts Witwe Constanze beauftragte Franz Xaver Süßmayr, einen Schüler des verstorbenen Komponisten, die Totenmesse zu vervollständigen. Bis in unsere Zeit hinein reicht die Liste der Vervollständigungsversuche, doch da Süßmayr Mozarts Absichten aus erster Hand kannte, ist seiner Fassung eine hohe Authentizität zuzubilligen.
Die Oper "Moses und Aron" von Arnold Schönberg besteht nur aus zwei vertonten Akten. Der Komponist schrieb auch das Libretto, das bis zum dritten und letzten Akt fertig wurde. In den Jahren 1930 bis 1932 komponierte Schönberg die ersten beiden Akte und ließ das Werk bis nach seiner Emigration 1937 in die USA ruhen. Dann griff er den Stoff wieder auf und machte sich ein paar musikalische Notizen für den dritten Akt, bevor er das Projekt aufgab. 1951, wenige Wochen vor Schönbergs Tod, wurde das Fragment in Teilen der Öffentlichkeit präsentiert. 1954 folgte in Hamburg die konzertante Uraufführung des gesamten Fragments. "Moses und Aron" setzte sich gegenüber den anderen Bühnenwerken des Komponisten am stärksten durch.
Franz Schubert, Aquarell, Mai 1825, von Wilhelm August Rieder | Bildquelle: Wikimedia Commons Nur zwei vollendete Sätze gibt es zu einer Symphonie h-Moll von Franz Schubert. Erst 1865, 37 Jahre nach dem Tod des Komponisten, wurden sie uraufgeführt. Gleichwohl zählt dieses symphonische Fragment, besonders dessen erster Satz, nicht nur zu Schuberts meistaufgeführten Orchesterwerken, sondern zu den beliebtesten Symphonien des 19. Jahrhunderts schlechthin. Vielleicht, weil die "Unvollendete" in sich so logisch konzipiert und abgeschlossen wirkt, dass sie einer Vollendung gar nicht mehr bedarf? Zwei Fakten lassen darauf schließen: Schubert nahm zwar einen dritten Satz in Angriff, doch dieses scherzoartige Gebilde bricht schon nach kurzer Zeit wieder ab. Zu einem Finale gibt es keinerlei bekannt gewordene Skizzen. Außerdem hätte Schubert weiß Gott genug Zeit gehabt, die "Unvollendete" zu vollenden, wenn er dies gewollt hätte: Die Musik entstand 1822, erst sechs Jahre später starb der Komponist. Legte er also seine h-Moll-Symphonie einfach in die Schublade, weil er ahnte, dass das Werk im Grunde schon abgeschlossen war? Die Rezeptionsgeschichte der Komposition würde ihm im Nachhinein recht geben.
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