Im Jahr 1822 schreibt Franz Schubert an einer Symphonie - nicht für ein Liebhaberorchester, wie stets zuvor, sondern für die kritische Öffentlichkeit, für die großen Säle - und nicht zuletzt mit dem Traum des Erfolges neben dem Symphonienkönig Beethoven. Doch im Herbst desselben Jahres legt Schubert seine Symphonie h-Moll zur Seite - erst einmal auf unbestimmte Zeit, weil ihm eine Auftragsarbeit dazwischen kommt. Vollendet hat er das Werk nie, was seinem dauerhaften Erfolg aber keinen Abbruch tut. Im Gegenteil!
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Das starke Stück zum Anhören
Kaum eine Symphonie beginnt so düster und bedrohlich, wie die "Unvollendete" von Franz Schubert. Jedes Kellergewölbe ist ein lichter Ort, verglichen mit diesem Dunkel. Und dennoch: Kaum eine Symphonie gehört so zu den Stammgästen im Konzertsaal und Radio, wie dieses Opus in h-Moll.
Schuberts Siebte - so die heute gebräuchliche Zählung - ist klassisches Allgemeingut, obwohl das Werk rätselhafte Klangwelten aufeinanderprallen lässt, mitunter Anflüge des Wahnsinns hörbar macht, genauso wie blumige Walzerseligkeit, und obwohl sie nur zwei Sätze hat. Aber dieser Symphonien-Torso übt offenbar eine ähnliche Faszination aus wie der Torso des David von Michelangelo, nämlich den Reiz der Reduktion.
Es sollte klingen wie eine einzige Linie.
Hat dann der raunende Beginn der Symphonie seine Wirkung getan, erwartet das Orchester bereits eine Hürde, nämlich das erste Thema. Um hier nicht in Routine zu verfallen und vielfach Gehörtes bloß zu reproduzieren, ist es gerade bei einer solch bekannten Tonfolge wichtig, ganz genau in den Notentext zu schauen, wie Riccardo Muti erklärt: "Eines der Probleme besteht darin, dass es einfach zu mechanisch klingt. Es sollte klingen wie eine einzige Linie."
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Die Holzbläser singen süßlich über den weiterhin grummelnden Streichern, die sich jedoch immer mehr aufplustern und schließlich die Oberhand gewinnen. Aber die Bläser rappeln sich auf und beginnen ihr Spiel von neuem. Hier zeigt sich eines der Grundprinzipien der Symphonie: eine behagliche, einschmeichelnde Melodie wird von einer aufwieglerischen Streichertruppe verschlungen, taucht aber entgegen aller Erwartungen, nach einer kurzen Erholungsphase wieder auf.
Nicht nur das liedhafte, sondern auch das tänzerische Element kehrt in Schuberts Symphonie immer wieder. Gleich zu Beginn des ersten Satzes im zweiten Thema: ein vielfach ausgeschlachteter Ländler. Als Filmmusik und als Werbespotmelodie wurde er benutzt und er machte sogar mit den Schlümpfen im Kinderfernsehen Karriere. Aber diese Idylle trügt: Auch hier ist kein Platz für weinseligen Frieden, wie er einen beim oberösterreichischen Heurigen einlullt. Harsche Orchesterschläge rufen zurück in die Realität, eher wie der Kater am Morgen nach dem Heurigen. Nächster Versuch einer Idylle: der zweite Satz, Andante con moto. Im tänzerischen Dreiertakt suggeriert Schubert eine Traumwelt. Es sind der Fantasie des Romantikers keine Grenzen gesetzt: Freie Fahrt für Assoziationen aller Art. Viel Zeit zum Traumwandeln bleibt jedoch nicht, denn nach dem bereits bekannten Muster donnert das komplette Orchester wieder daher und beendet die Leichtigkeit - vorerst. An diesen Passagen beweist ein Orchester, wie gewandt es in der Behandlung der Dynamik ist. Denn die Kontraste sind ungeheuerlich: Fortissimo gegen Pianississimo…
Doch nicht allein der Aufbau der Symphonie steckt voller mysteriöser Wechselspiele, auch Schuberts Lebenswandel rund um die Entstehungszeit birgt Rätsel. Er kündigte seinen Schuldienst und lebte fortan in einer Künstler-WG; seine Syphilis-Erkrankung brach aus und er war notorisch pleite. Trotzdem arbeitete er wie besessen, gleichwohl eine wirkliche Anstrengung, noch zwei weitere Sätze zur h-Moll-Symphonie zu komponieren, nirgendwo dokumentiert wurde - weder von Schubert, noch von einem seiner Freunde. Es gibt nur einige Skizzen für einen dritten Satz. Also geht man davon aus, dass für Schubert die "Unvollendete" eigentlich eine vollendete Tat war.
Dabei wäre Schubert eine komplette Symphonie sicherlich gut bekommen, allein wegen seiner katastrophalen Finanzlage. Doch er träumte statt von vier Sätzen lieber von der großen Oper. An den befreundeten Librettisten Bauernfeld schreibt er: "Ich kann nirgendwo hinkommen, ich habe GAR kein Geld, und es geht mir überhaupt sehr schlecht. Ich mache mir nichts draus und bin lustig. Übrigens komme sobald als möglich nach Wien. Weil man von mir eine Oper wünscht…"
Wegen einer Oper, zu der es aber nicht kommt, und der "Wanderer-Fantasie" legt er die angefangene Partitur für immer in die Schublade. Erst 37 Jahre nach Schuberts Tod erlebte seine Symphonie h-Moll ihre Uraufführung im Wiener Redoutensaal und feierte schon damals einen sensationellen Erfolg.
Franz Schubert:
Symphonie h-Moll D 759 "Unvollendete"
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Riccardo Muti
Eigenaufnahme
Sendung: "Das starke Stück" am 31. Januar 2023 um 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK