Die unter den Nummern 1007 bis 1012 verzeichneten Kompositionen im Bach-Werkverzeichnis betrachtet jeder Cellist als eine Herausforderung. Johann Sebastian Bach komponierte die sechs Suiten für Violoncello solo vermutlich um 1720 in Köthen. Die Cello-Suiten sind Gipfelwerke und Hohe Schule zugleich für jeden Cellisten.
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Das starke Stück zum Anhören
An den Anfang der Suite setzt Bach ein Prélude. Es ist der Satz, in dem das Klang- und Ausdrucksspektrum des Cellos am besten zur Geltung kommt. Dabei beginnt es fast unscheinbar: mit einer Sechzehntelfigur, die auf dem G-Dur Grundakkord basiert. Im weiteren Verlauf des Préludes bilden durchgehende Sechzehntelbewegungen ein Akkordgewoge, das an das Präludium C-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier Band 1 erinnert. Wie Wellen schiebt sich dieses Akkordgewoge gleichmäßig weiter, bis plötzlich, in der Mitte des Préludes, eine abrupte Unterbrechung erfolgt. Ein ganz besonderer Moment für den Cellisten Daniel Müller-Schott: "Für mich stellt sich das als Schock dar; ich finde das ziemlich unerwartet. Gerade beim ersten Prélude ist diese Struktur ja sehr klar, immer in dieser schwingenden Sechzehntelbewegung und plötzlich bleibt es stehen auf einem Ton in der Mitte, und man weiß als Zuhörer und auch als Interpret nicht genau: Wie wird es weitergehen?"
Nach diesem Innehalten, das genau in der Mitte des Préludes erfolgt, beginnt der lange Weg der Modulation zurück zur Grundtonart G-Dur. Auf diesem Weg kostet Bach eine Spieltechnik aus, die den Wechsel zwischen gegriffener und leerer Saite bei gleichzeitigem Saitenwechsel beinhaltet und deren besonderer Reiz in dem schnellen und wiederholten Klangfarbenwechsel liegt. Dieser Bariolage-Partie folgen zwei Takte, in denen Bach eine aufsteigende chromatische Linie komponiert, deren Steigerung und Spannung eine unglaubliche Sogwirkung auslöst. Dieser Sog mündet in die Akkordfigur, die Bach bereits am Anfang des Préludes verwendet hat. Im Unterschied zum Anfang beginnt die Akkordbrechung jetzt von oben. Nach der Chromatik hat das eine nahezu erlösende Wirkung und führt zu einem strahlenden Schluss des Préludes.
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Im Wesentlichen orientiere ich mich als Interpret an der Version von Anna Magdalena Bach.
Bei der Interpretation der Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach stellt sich jeder Cellist die Frage nach der Artikulation und der Phrasierung. Da das Autograph der Cellosuiten nicht mehr vorhanden ist, bleiben den Interpreten vier Abschriften, wo sie nachschauen können, wie Phrasierungs-und Artikulationsbögen aussehen könnten. Daniel Müller-Schott hat sich für eine ganz bestimmte Abschrift entschieden: "Im Wesentlichen orientiere ich mich als Interpret an der Version von Anna Magdalena Bach. Da sind die Phrasierungsbögen relativ klar zu erkennen."
Daniel Müller-Schott | Bildquelle: © Uwe Ahrens Im Anschluss an das Prelude folgen sechs Tanzsätze. Bach hält sich an die traditionelle Tanzfolge Allemande-Courante-Sarabande-Gigue, unterbricht dieses Formschema aber durch zwei hinzugefügte Menuette. Die Allemande beginnt mit der für sie charakteristischen Rhythmusfigur, an die sich eine schlichte Melodie anschließt. "Dazu fällt mir ein Zitat ein", sagt Müller-Schott. "Von Johann Gottfried Walther, der 1732 in seinem Lexikon beschreibt: 'Die Allemande ist ernsthaft und gravitätisch gesetzt und muss auch auf gleiche Art exekutiert werden.' Ein sehr schöner Satz, und ich denke, dass die Allemande in der G-Dur Suite auch dementsprechend interpretiert werden sollte."
Weniger nachdenklich, weniger gravitätisch als die Allemande, ist der nachfolgende Satz: die Courante. Zu Beginn wird das gesamte Material der Courante vorgestellt: dem Auftakt folgen drei weiträumige Sprünge, an denen schließlich cantable eine schnelle Figur angehängt wird. Nach der Courante folgt eine geradezu klassisch komponierte Sarabande: Sie gliedert sich in zweimal acht Takte und beginnt mit dem für sie typischen Rhythmus. Zwischen der Sarabande und dem letzten Satz der Suite, der Gigue, setzt Bach zwei kleine Menuette. Im Ablauf wird zunächst Menuett 1, anschließend Menuett 2 und dann wieder Menuett 1 gespielt. Während im ersten Menuett das cantabile-Spiel gefordert wird, erinnert das zweite Menuett an eine Bassstimme, wie sie jeder Cellist als Continuo-Spieler kennt.
Daniel Müller-Schott | Bildquelle: © Uwe Arens Eine schwungvolle Gigue beschließt diese erste Cellosuite von Bach. Sie steht im Sechsachteltakt und hat ein markantes Anfangsthema, bestehend aus vier Takten. Im ersten Teil der Gigue setzt Bach lange und kurze Partikel des ersten Teils dieses Themas hintereinander. Im zweiten Teil der Gigue entsteht kurz der Eindruck, als würden zwei Instrumente miteinander kommunizieren. Im Anschluss daran verwendet Bach den zweiten Teil des Anfangs-Themas, den mit dem markanten Rhythmus. Eigentlich hätte Bach hier schon die Gigue beenden können. Stattdessen aber komponiert er eine zusätzliche Schlussbestätigung und schreibt auf diese Art und Weise einen quasi unterstrichenen Schluss.
Johann Sebastian Bach:
Suite für Violoncello solo Nr. 1 G-Dur, BWV 1007
Daniel Müller-Schott (Violoncello)
Label: Glissando