Die "Douze Etudes pour la guitare" des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos gehören zu den wichtigsten Werken, die jemals für die Gitarre komponiert wurden. Die Stücke wurden durch die Freundschaft mit dem spanischen Gitarristen Andres Segovia angeregt, der auch ein Vorwort zur Druckausgabe 1953 beisteuerte. Komponiert wurde das Werk aber wesentlich früher: Die Etüden sind um 1928 während des langen Aufenthalts von Villa-Lobos in Paris entstanden – dennoch sind die Wurzeln dieser Musik zutiefst brasilianisch. BR-KLASSIK stellt die zwölf Etüden zusammen mit Johannes Tonio Kreusch vor.
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"Was in Villa-Lobos' Leben Dichtung und Wahrheit ist, ist für jemanden, der nicht sein ganzes Leben begleitet hat, nicht immer leicht herauszufinden" schreibt Lisa Peppercorn, die Biographin des Komponisten. So schwanken zum Beispiel die Angaben für das Geburtsjahr zwischen 1881 und 1891 – Villa-Lobos lässt sich da nicht so genau festlegen. Er war eine in jeder Hinsicht schillernde Persönlichkeit. Einmal soll er, der in Rio de Janeiro zur Welt gekommenen ist, eine Gitarre, das Nationalinstrument Brasiliens, am Hals gepackt und sie hocherhoben geschüttelt haben mit dem Ausruf: "Das ist das 20. Jahrhundert". Die Musik von Heitor Villa-Lobos ist ein tiefes und unmittelbares Bekenntnis zur Geschichte und Kultur Lateinamerikas, das er mit der europäischen Musiktradition verband – und dabei spielt die Gitarre eine ganz besondere Rolle.
"'Ich bin die Folklore", soll Villa-Lobos einmal in seiner ungestümen Art gesagt haben. Und in der Tat spürt man das eigentlich in allen seinen Stücken, diese Liebe zur Musik und Kultur seiner Heimat", sagt Johannes Tonio Kreusch. "Und es ist ganz interessant: Er verwendet zwar Motive und Ideen aus der brasilianischen Volksmusik, aber er zitiert nie eigentlich wörtlich. Seine großartigen Melodien, Rhythmen und Themen sind nie aus der Volksmusik kopiert, sondern es sind alles seine eigenen Erfindungen. Man denke etwa an die wunderschöne Melodie der achten Etüde mit dem schönen brasilianischen Rhythmus."
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Heitor Villa-Lobos | Bildquelle: picture-alliance / United Archives / TopFoto Heitor Villa-Lobos fühlte sich durch die akademische musikalische Ausbildung eingeengt. So brach er diese ab und lernte die brasilianische Volksmusik durch das Spiel mit Straßenkapellen kennen. In seinen Kompositionen verband er dann die Traditionen seiner Heimat mit den neuen Ideen und Klängen der modernen Welt. Daneben gab es aber noch ein weiteres wichtiges Vorbild für ihn, nämlich Johann Sebastian Bach. Wie in vielen anderen seiner Stücke, spürt man auch in der ersten Etüde – die Villa-Lobos im Manuskript noch mit "Prelude" überschrieben hatte – Anklänge an die Kunst des großen deutschen Meisters.
Im späten 19. Jahrhunderts war es üblich, für die Gitarre meist kurze Einzelstücke zu komponieren – was dagegen fehlte, waren fundamentale Zyklen und größere, zusammenhängende Werke. Und genau das hat Villa-Lobos dem Gitarrenrepertoire mit den 12 Etüden gegeben – als Vorbilder dienten ihm nicht nur die berühmten Etüden op. 10 und 25 von Chopin, sondern auch Debussys "Douze Etudes pour piano" aus dem Jahr 1915. Villa-Lobos eröffnete der Gitarrenmusik neue Horizonte durch die raffinierte Nutzung der idiomatischen technischen Möglichkeiten des Instruments.
"Villa-Lobos war ein Freigeist, ein Mensch, der Zeit seines Lebens nach neuen Möglichkeiten und Ideen gesucht hat, Ideen in der Musik, aber auch interpretatorischen Ideen, und er hat sich wenig geschert um das, was andere sagen", so Johannes Tonio Kreusch. "Er hat immer seinen eigenen Weg gesucht und so war es auch bei der Gitarre. Er war ja ein ganz großartiger Gitarrist, es gibt ein paar ganz spannende Aufnahmen von Villa-Lobos. Er hat einen eigenen Weg gesucht. Und das Gute war wahrscheinlich, dass er jetzt keine ausgebildete klassische Gitarrentechnik hatte, sondern er ist seinen eigenen Weg gegangen, auch was die Herangehensweise an die Gitarre angeht. Und so hat er aus seinem ganz eigenen Empfinden und seinem eigenen Experimentieren einen neuen Weg gefunden für die Gitarre zu komponieren und so großartige Stücke wie die 12 Etüden geschrieben."
Villa-Lobos hat sich wenig geschert um das, was andere sagen.
Johannes Tonio Kreusch | Bildquelle: Detlef Schneider Auch als pädagogisches Werk sind die 12 Etüden fundamental – der Begriff der Etüde sollte aber nicht zu wörtlich genommen werden. Sicher steht jeweils ein besonderes spieltechnisches Problem im Vordergrund, die Stücke werden aber nie als motorische Übungen zu betrachten sein. Dennoch, obwohl die "Douze Etudes" heute als Standartrepertoire anzusehen sind, bleiben sie für jeden Gitarristen eine immense Herausforderung – sowohl musikalisch als auch in rein physischer Hinsicht. Heitor Villa-Lobos fordert vom Interpreten, die Technik sowohl der rechten wie der linken Hand komplett zu überdenken und in einen ganz neuen Zusammenhang zu stellen. Der Komponist wusste übrigens ganz genau, was er da tat: Er konnte seine Etüden alle selber spielen!
"Die 12 Etüden hat Heitor Villa-Lobos dem großen spanischen Gitarristen Andres Segovia gewidmet, und es ist überliefert, dass Segovia zu Villa-Lobos kam und ihm sagte, viele Stellen kann man eigentlich gar nicht spielen", so erzählt Johannes Tonio Kreusch. "Aber Villa-Lobos hat sich dann an die Gitarre gesetzt und Segovia sozusagen live davon überzeugen können, indem er ihm diese Stellen vorgespielt hat. Und es zeigt eben, dass Villa-Lobos einen ganz eigenen Weg auch im Hinblick auf die Gitarrentechnik gegangen ist und sozusagen auch den Grundstein gelegt hat zu einer neuen, modernen Auseinandersetzung um die klassische Gitarre.
Heitor Villa-Lobos:
Zwölf Etüden für Gitarre solo. "Douze Etudes pour la guitare"
Johannes Tonio Kreusch (Gitarre)
Label: Arte Nova
Sendung: "Das starke Stück" am 10. Dezember 2024, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK