Johann Sebastian Bachs "Ouvertüre nach französischer Art" ist eine Rückschau auf sein Suitenschaffen und zugleich auf die im Absterben begriffene traditionsreiche Kultur der Suite. Sie bildet zusammen mit dem Italienischen Konzert den zweiten Teil seiner "Clavier Übung". Das Wort "Übung" mag in die Irre führen, denn es ist nicht gleichzusetzen mit dem heutigen Verständnis einer "Etüde". Diese keinesfalls leicht zu spielenden Übungen richten sich nicht an Schüler. Bach ging es vielmehr um eine umfassende geistige und technische Auseinandersetzung mit Musterbeispielen von Stilarten seiner Zeit.
Bildquelle: picture-alliance/dpa
Das starke Stück zum Anhören
Karrierebedingt wechselte Johann Sebastian Bach mehrfach den Wohnort. 1723 zog er erneut um; diesmal wegen seiner letzten und schließlich wichtigsten Funktion als Kantor in Leipzig. Bis zuletzt blieb Bach lernbegierig und bis zuletzt lehrte er auch, denn beides war in seiner Ästhetik untrennbar. In seinen besten Jahren gab er 1735 in Leipzig den zweiten der insgesamt vier Teile seiner "Clavier Übung" heraus. Darin zitierte er mit eigenen Werken fast bekenntnishaft die beiden Nationalstile, die ihm aus den damals tonangebenden Ländern Italien und Frankreich zugeflossen waren. Im "Zweyte[n] Theil" der "Clavier Übung" folgten zusammen die "Ouvertüre nach französischer Art" (BWV 831) und das "Concerto nach italienischem Gusto" (BWV 971).
Die im April 1735 veröffentlichte "Ouvertüre" zählt inzwischen zu den Herzensstücken der russischen Pianistin Yulianna Avdeeva. "Diesem Werk bin ich relativ spät begegnet", sagt die Musikerin. "Durch die unglaubliche Tiefe und andererseits auch diese Lockerheit, die die Französische Ouvertüre besitzt, war ich sofort gefangen von dem Stück und wollte das sofort auch selbst spielen. Von der musikalischen, philosophischen und inhaltlichen Bedeutung ist sie für mich eins von Bachs Hauptwerken."
"Das starke Stück - Musiker erklären Meisterwerke" gibt es auch als Podcast: Jetzt abonnieren!
Bachs Musik verlangt eine besondere Haltung.
Die "Ouvertüre nach französischer Art" ist eines von sechs großen Instrumentalwerken Bachs in h-Moll. Erstaunlicherweise hatte er sie ursprünglich in c-Moll geschrieben und später erst in das von ihm wohl als farbiger empfundene h-Moll transponiert. Und allein der fast zwölfeinhalbminütige erste Satz löst bei der Pianistin Juliana Avdeeva eine besondere, auf Körper und Geist wirkende Emotion aus: "Zweifelsohne, die Musik spürt man mit dem Körper. Das heißt nicht, dass man den Körper in alle Richtungen bewegen soll, wenn man etwa extrovertierte Musik spielt. Aber die Musik verlangt eine besondere Haltung, in erster Linie eine Geisteshaltung, und die verleiht dann auch dem Körper eine entsprechende Position. Ich finde, das ist generell so bei Bachs Musik."
Die Pianistin Yulianna Avdeeva | Bildquelle: C. Schneider Johann Sebastian Bach war, wie damals ganz Europa, von den Errungenschaften der französischen Musik fasziniert. Er bewunderte auch den Stil von Jean-Baptiste Lully und griff dessen Tanzformen auf. Die auf den eröffnenden Ouvertüren-Satz folgenden Tänze sind charakterlich sehr unterschiedlich: eine geheimnisvolle Courante, zwei elegante Gavottes und fröhlich-sprunghafte Passepieds, eine poetisch klagende Sarabande, energievoll die Bourrée I und mysteriös die Bourrée II, dynamisch verschmitzt die Gigue und freudig das Echo. Jeder Satz hat für Yulianna Avdeeva seine besondere Herausforderung: "Die sind alle nicht ohne, muß ich schon sagen. Es ist auch so, dass Bach für den französischen Stil ja relativ wenig Verzierungen geschrieben hat. Im französischen Stil gibt es nicht nur die schlichte Melodie, sondern man man arbeitet viel mit Trillern und anderen Verzierungen. Und obwohl es relativ einfach notiert ist, ging Bach eigentlich davon aus, dass die Leute, die dieses Werk spielen werden, sich mit dem französischen Stil auskennen und entsprechend diese Varianten spielen können, ohne sie eigens aufzuschreiben. Das ist schon eine Herausforderung, sich damit auseinander zu setzen und zu entscheiden, was, wo und wie man variieren will, ohne dass die originale Idee komplett verändert wird."
Und bei all den nebeneinanderstehenden gegensätzlichen Stimmungen von dunkel über tiefgründig bis fröhlich, hat Yulianna Avdeeva auch einen erklärten Favoriten, bedingt durch Bachs unglaublichen Sinn für Humor: "Mein absolutes Lieblingsstück der Suite ist das allerletzte, das 'Echo'. Dass Bach überhaupt auf den Gedanken kommt, ein derartig humorvolles Schlussstück für ein so großes und wichtiges Werk zu komponieren, das ist einfach absolut fantastisch."
Zum Schluss hat Bach also ein "Echo" hinzugefügt, keinen Tanz, sondern einen abstrakten Schlusssatz, in dem er die Möglichkeit des zweimanualigen Cembalos benutzt, piano und forte zu spielen. Yulianna Avdeeva hat dieses Instrument immerhin in Erwägung gezogen: "Ich habe das überlegt, weil ich es schon spannend finde zu hören, wie es eigentlich auf dem Instrument klingt, das Bach vorgesehen hat. Und es ist schon etwas anderes als ein moderner Flügel. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass Bach auch auf einem modernen Instrument gespielt werden kann, und, wie ich in meinen Fall finde, auch muss. Ich finde, die Aussage, die Bach in seiner Musik - allgemein, nicht nur in diesem Werk - trifft, ist immer noch aktuell und zeitlos. Das kann man auch mit modernen Mitteln auf einem modernen Instrument darstellen."
Bach verkörpert für mich eine ideale Welt, einen idealen Menschen.
Und worin genau besteht die Aussage von Bachs Musik für Avdeeva? "Kurz gesagt, dieses Streben nach dem Menschsein im idealsten Sinne des Wortes. Es geht nicht um Moral, sondern darum, Mensch zu sein im philosophischen Sinne des Wortes - mit Schwächen und Stärken, die den Menschen ausmachen. Bach ist dabei nie belehrend, sondern er verkörpert für mich ein einfach das Universum, eine ideale Welt, einen idealen Menschen."
Johann Sebastian Bach:
Ouvertüre nach französischer Art h-Moll, BWV 831
Yulianna Avdeeva (Klavier)
Label: Mirare
Sendung: "Das starke Stück" am 17. April 2018, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK