"Zum Nutzen und Gebrauch der lehrbegierigen musikalischen Jugend" ist es laut Verfasser gedacht, aber auch zum "besonderen Zeitvertreib derer, die in diesem Studio schon habil seien". Kein geringer Geltungsanspruch – doch mit seinem Wohltemperierten Klavier setzte sich Johann Sebastian Bach tatsächlich ein musikalisches Denkmal. Er demonstrierte in seinem Werk nicht nur wieder einmal seine perfekte Beherrschung des Kontrapunkts, sondern schöpfte auch als einer der ersten die neugewonnene Freiheit der wohltemperierten Stimmung aus.
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Das starke Stück zum Anhören
Es war 1717 und es war ein frostiger November, als Johann Sebastian Bach im Gefängnis saß. Sein halsstarriges Wesen hatte ihm diesen ungemütlichen Ort eingebrockt. Doch scheinbar unbeeindruckt von der Kerkeratmosphäre, nutzte Bach die Zeit zum Komponieren. Erste Präludien und Fugen zum Wohltemperierten Klavier entstanden dort. Allerdings darf man sich vom Titel des Klavierwerkes nicht in die Irre führen lassen. Bach dachte im eisigkalten Gefängnis beim Wort "wohltemperiert" nicht etwa an einen warmen Ofen.
24 Präludien und Fugen umfasst das Klavierwerk, das Bach in seiner Köthener Zeit vollendet hat. In jedem Fall nutzte Bach das Büchlein für seine Schüler als Unterrichtsmaterial. Aber Bach trainierte mit den anspruchsvollen Klavierübungen nicht nur die Fingerfertigkeit seiner Schüler, sondern das Lehrwerk hatte für ihn gleichzeitig den Stellenwert eines Kunstwerkes.
Gleichwohl das Werk im Titel auf das "Klavier" hinweist, hat Bach nicht allein das im 18. Jahrhundert gebräuchliche Klavier bzw. Cembalo im Auge gehabt. Denn das Klavier war damals beinahe pausenlos Verbesserungen und Neuerungen ausgesetzt. Übrigens, zu Bachs großer Freude. Vermutlich würde er heutzutage Staunen, mit welchem Eifer sich die Interpreten in zwei Lager verschanzen: die einen pro Cembalo und contra Konzertflügel, die anderen umgekehrt. Till Fellner nutzt einen modernen Flügel.
Nimmt man einmal an, es handele sich tatsächlich um ein als Ganzes konzipiertes Werk, dann kommt es einem Gesamtkunstwerk gleich: Verblüffend ist nämlich die Vielfalt der Stile. Für jeden Geschmack und jede Empfindung findet sich etwas.
Als A und O der Klavierliteratur betrachteten viele Kollegen von Bach diese Präludien- und Fugensammlung: Mozart und Haydn studierten die Handschriften und guckten sich manches ab. Beethoven versuchte Bachs Fugenkunst zu übertreffen. Und vielleicht lässt sich sogar eine Parallele zwischen "Faust 1" und dem Wohltemperierten Klavier Teil 1 finden, einen zweiten Teil hätten beide Künstler jeweils auch noch anzubieten. Was Goethes Bewunderung für Bach angeht, so fehlt es nicht an Beweisstücken.
Johann Sebastian Bach
Das Wohltemperierte Klavier, 1. Teil, BWV 846-869
Till Fellner, Klavier
Label: ECM